Wasser !

 

von  Thomas Büser

Madrid mag zwar auf einer trockenen Hochebene liegen. Aber wer denkt, es gebe hier keinen Fluss, der irrt.

Der Blick auf die virtuelle Landkarte macht nicht gerade Mut: die vielbereisten spanischen Küsten sind zwischen 350 und 600 Kilometer entfernt. Größere Flüsse wie Ebro, Tajo oder Guadalquivir durchziehen zwar die iberische Halbinsel, doch an Madrid fließen sie konsequent vorbei. Eine europäische Hauptstadt ganz ohne Fluss und Küstenanbindung – eine vollkommene Fehlkonstruktion. Mitten in der staubigen Hochebene La Mancha und noch dazu auf einem Hügel gelegen. Das ist Madrid.

Was mögen sich die muslimischen Bauherren Mitte des 9. Jahrhunderts bloß gedacht haben, als sie an der Stelle des heutigen Palacio Real eine kleine Garnisonsstadt gründeten, der sie auch noch den Namen „Mayrit“ verpassten. Mayrit, das heißt auf Deutsch so viel wie „Ort der vielen Wasser“. Waren diese Araber von allen guten Geistern verlassen? Nicht ganz. Immerhin gab es eine ganze Reihe unterirdischer Wasserläufe und auch Lagunen, die das Gelände speisten. Und wenn wir die virtuelle Landkarte ein bisschen größer zoomen, dann kommt irgendwann auch ein Fluss in Sicht, der irgendwie durch Madrid durch oder auch daran vorbei fließt: der Manzanares.

Beim Leiermann gibt es auch einen Kulturblog – hier ist der direkte Weg dorthin

Auf den ersten Blick wird klar: dieser Fluss ist eher ein größerer Bach. Und so hat es auch nicht an Lästermäulern gefehlt, die sich über den Manzanares lustig machten. Nachdem die Hahsburger 1561 allen Ernstes ihre Hauptstadt in das Provinznest Madrid verlegten, da war der Erzsarkastiker Francisco Quevedo sofort mit beißender Häme zur Stelle: kein Fluss, sondern Eselspisse. Das sei der Manzanres. Und auch nachdem etliche Stararchitekten der Zeit mit imposanten Brücken das Aussehen des Rinnsals zu verändern begannen, riss der Spott nicht ab.

Toledo Brücke in Madrid, © ToyaKis

Der Volksmund höhnte: so viele Brücken für so wenig Wasser. Aber letztendlich arrangierte man sich mit dem unscheinbaren Wasserlauf. An ihm und in ihm wurde Wäsche gewaschen, Feste und Prozessionen zum Lokalheiligen San Isidro verliefen an den Flussufern. Sogar Francisco Goya verewigte den Manzanares im späten 18. Jahrhundert in zahlreichen seiner lieblichen Genremalereien, die er als Kartonvorlagen in der königlichen Teppichfabrik erstellte.

Doch diese emotionale Annäherung war nur von kurzer Dauer. Das 20. Jahrhundert verbannte den Stadtfluss in den Seitengraben einer monströsen Umgehungsautobahn, der M-30. Jahrzehntelang wurde er zum Rinnsal degradiert und aus dem Gesichtsfeld der Madrilenen vertrieben. Zwischen 1970 und 2008 hatte die Stadt wirklich kein Wasser im Stadtraum mehr (mal von diversen Parkseen abgesehen).

Doch dann begann die Revolution. Die Stadtautobahn wurde kurzerhand unterirdisch gelegt, übrigens mit Hilfe eines der längsten europäischen Innenstadttunnel. Oberirdisch wurde ein kilometerlanger Grünstreifen frei, der in den folgenden Jahren zu einer Uferpromenade bepflanzt wurde. Und auch das Rinnsal Manzanares wurde beträchtlich aufgestaut, so dass wir nun auf seinem Lauf zwischen Palacio Real und Kulturzentrum Matadero tatsächlich einen richtigen Fluss haben.

Eine gigantische Operation, die die städtischen Kassen für mehrere Generationen ruinierte. Der reichlich technische Name der  Flussanlage,  „Madrid  Río“, hebt  zudem  genau  den artifiziellen  Charakter  des Flussklons hervor. Doch am Ende entscheidet wie immer das zahlende Publikum, sprich die Madrilenen, über Erfolg oder Misserfolg eines urbanistischen Großprojekts.

Und da scheint das Urteil klar: vor allem am Wochenende vergnügt sich am Fluss eine kunterbunte Menschenmenge aus Spaziergängern, Fahrradfahrern, Joggern, Skatern, Jugendgangs etc. Springbrunnen sorgen für Erfrischung, Cafeterías imitieren die „chiringuitos“ am Strand.

Für mich ist dieser Kunstfluss eine Wohltat. Natürlich hält er den Vergleich mit Rhein und Donau nicht stand. Aber er ist eben so typisch Madrid. Respektlos in die Welt geworfen, egal mit welchem Aufwand. Genauso wie man Anfang des 20. Jahrhunderts die Gran Vía durch den Häuserdschungel der Altstadt schlug, so wird jetzt einfach eine Flusspromenade aus dem Boden gestampft. Für den lange vernachlässigten Süden der Stadt eine Wohltat und eigentlich der erste positive urbanistische Eingriff seit Generationen.

Madrid wäre aber nicht Madrid, wenn der Segen nicht auch seine Schattenseiten hätte. Die Hauptstädter sind so bedürftig nach dem Flanieren an der frischen Luft, dass man am Wochenende buchstäblich keinen Schritt vor den anderen setzen kann. Da ist der Manzanares ein Kassenschlager – und ich bleibe entweder zu Hause oder stürze mich ins ebenso überfüllte Zentrum. Aber eines wird mir jeden Tag klar, wenn ich vor die Tür trete: in Madrid gibt es endlich Wasser!

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