Von Weihnachts-booten und Weihnachtsbäumen

von Andrea Strobl

Von Weihnachts-booten und Weihnachts-bäumen

von Andrea Strobl

Als ich Ende der 80er Jahre das erste Mal ein Weihnachtsfest in Athen verbrachte, erstaunten mich all die schön geschmückten Boote, die als kunstvolle Weihnachtsdekoration auf manch Athener Plätzen, vor Museen, im Hafen von Piräus und selbst in vielen Häusern zu sehen waren – kaum eine Wohnung oder ein Haus, in dem nicht an irgendeiner Stelle ein kleines, dekoriertes Boot aufgestellt war. Der Brauch war weit verbreitet, und in manchen Familien gibt es auch noch heute nur ein Boot und keinen Weihnachtsbaum.

Überraschend ist das im Grunde nicht, denn seit der Antike waren die Griechen ein Seefahrervolk – nicht von ungefähr schrieb Homer sein Epos über den wohl heldenhaftesten aller Seefahrer: Odysseus.

Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes,
Welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung,
Vieler Menschen Städte gesehn, und Sitte gelernt hat,
Und auf dem Meere so viel‘ unnennbare Leiden erduldet (…) [1]

Noch vor wenigen Jahrzehnten gab es in beinahe jeder zweiten oder dritten griechischen Familie einen Vater, einen Sohn oder weitere enge Verwandte, die ihr Glück und Auskommen auf dem Meer suchten, um ihre Familien ernähren zu können. So auch mein Schwiegervater, der dreißig Jahre lang die Weltmeere und unzählige Länder bereiste, worüber er später immer viel Erstaunliches und Amüsantes zu berichten wusste. Die andere Seite der Medaille war allerdings, dass die allein gelassenen Frauen und Kinder den Ehemann bzw. Vater oft zwei oder drei Jahre nicht zu Gesicht bekamen, im besten Falle sahen sie ihn ein oder zwei Mal im Jahr.

Auch mein Mann erzählte mir, wie er als kleines Kind oft Schwierigkeiten hatte, sich an den Vater überhaupt zu erinnern: Eines Tages öffnete er als Knirps die Tür, sah unvermutet einen »Fremden« vor sich und rief angstvoll nach der Mutter. Und auch meine Schwiegermutter erzählte immer schmunzelnd, dass sie selbst eines Tages ihren Mann fast nicht wiedererkannte, weil er nach einer drei Jahre dauernden Seereise so arg an Gewicht zugelegt hatte. Sie drohte ihm dann an, ihn das nächste Mal nicht mehr ins Haus zu lassen, sollte er die überflüssigen Pfunde bis zum nächsten Besuch nicht wieder verloren haben – eine Geschichte, die in der Familie stets für Gelächter sorgte! Aber natürlich war das Thema im Grunde nicht zum Lachen, denn das Leben all dieser allein gelassenen Frauen mit ihren Kindern war wahrlich kein leichtes. Aber so war das damals eben – und ist es auch manchmal heute noch …

Weihnachtsschiff, © Barbara Dombos

Zum Zeitvertreib – vielleicht auch ganz unbewusst aus Sehnsucht nach dem fehlenden Vater – gewöhnten es sich manche dieser »halbverwaisten« Kinder an, mit viel Phantasie aus den einfachsten, ihnen zur Verfügung stehenden Materialien wie Treibholz, Papier, Schnüren oder Stofffetzen καραβάκια (kleine Boote) zu basteln und kunstvoll zu verzieren. Dahinter stand der Wunsch, »ihre« Seefahrer so bald wie möglich wiederzusehen. Diese Basteleien wurden daher oftmals den heimkehrenden Familienmitgliedern als Begrüßungsgeschenk überreicht, waren aber auch eine Art von τάματα (Weihgaben), die den Seefahrern Glück, eine ruhige See und eine gute Heimkehr bescheren sollten. [2] Nicht zuletzt war dieser Brauch auch religiös verankert: Das Boot war eine Metapher für den neuen »Kurs«, den die Menschen nach der Geburt Christi aufgenommen haben. Auch mit dem Fest des heiligen Nikolaus am 6. Dezember wurde dieser Brauch in Verbindung gebracht, ist er doch der Schutzheilige der Seefahrer. Was bot sich da besser an, als ein Boot zu seinen Ehren zu schmücken?

Jedenfalls konzentrierte sich dieser Brauch immer mehr auf die Weihnachtszeit. Vor allem natürlich auf den griechischen Inseln, die manchmal nur karg oder gar nicht bewaldet sind und über keine geeigneten Nadelbäume verfügen, etablierten sich in den Häusern und auf den Plätzen die schön geschmückten und illuminierten Boote; das konnten kunstvoll gestaltete, kleine und größere Kreationen aus allerlei Materialien sein oder in den Häfen weihnachtlich »umfunktionierte«, vor Anker liegende Booten.

Wie aber kam nun der Weihnachtsbaum nach Griechenland?

Der Brauch, Bäume oder Zweige zu bestimmten Anlässen zu schmücken, war den Griechen schon seit der Antike bekannt. So erzählt bereits die griechische Mythologie von Theseus, der auf seiner Reise nach Kreta, wo er den Minotaurus töten sollte, kurz auf der Insel Delos Halt machte, um den Gott Apollon um Hilfe zu bitten und ihm ein Versprechen zu geben: Sollte er seine Aufgabe erfolgreich ausführen, würde er Apollon einen geschmückten Olivenzweig als Dank darbringen – was er nach erfolgreicher »Mission« auch tat. Auf diesen Mythos ging dann auch der in der Antike praktizierte Brauch zurück, zum Fest zu Ehren Apollons vor den Häusern Olivenbäume mit bunten Wollfäden, Nüssen, Feigen, Honigkeksen und vielem mehr zu schmücken [3].

Auch in der christlichen Tradition fand der geschmückte Baum seinen Platz: Er verwies natürlich zunächst auf den »Paradiesbaum«, also den Baum der Erkenntnis und des Lebens [4]. Insbesondere der Ölbaum verwies auf das Alte und Neue Testament, wird er doch mehr als 170 Mal in der Bibel erwähnt als heiliges Symbol für den Kreislauf des Lebens [5]. In der orthodoxen Liturgie spielen er und seine Zweige deshalb bei allen wichtigen Ereignissen eine Rolle, von der Taufe, über die Hochzeit bis zum Tod.

So wurden zum Beispiel am 6. Januar, dem Tag der Theophanie, im Gedenken an die Taufe Christi zwei geschmückte Olivenbäume in den orthodoxen Kirchen aufgestellt. Aber dies nur in aller Kürze zur Mythologie und christlichen Symbolik des »Baumes«, denn dazu ließe sich wahrlich mehr erzählen. Nun machen wir einen gewaltigen Zeitsprung:

Weihnachtsschiff, © dpfoxfoto

Trotz aller Geschichten über geschmückte Bäume und Zweige in der griechischen Mythologie und im orthodoxen Brauchtum wurde ein geschmückter Weihnachtsbaum in Griechenland tatsächlich zum ersten Mal im damaligen Regierungssitz des aus Bayern stammenden Königs Otto I. in Nauplia aufgestellt. Man erinnere sich: Nach dem Ende des griechischen Unabhängigkeitskrieges gegen das Osmanische Reich wurde Otto, der zweite Sohn des bayerischen Königs Ludwig I., zum ersten griechischen König ernannt. Der Regierungssitz befand sich damals noch nicht in Athen, sondern in Nauplia auf der Peloponnes. Und so kann man den ersten Weihnachtsbaum in Griechenland auf das Weihnachtsfest 1833 datieren, als am 24. Dezember im königlichen Palast in Nauplia ein riesiger geschmückter und beleuchteter Tannenbaum stand. Otto und seine Frau Amalia wollten sich damit an Weihnachten wohl auch etwas »zu Hause« fühlen, und die in den Palast geladenen griechischen Honoratioren standen bass erstaunt vor diesem Weihnachtsbaum.

Auch später, im von Friedrich von Gärtner erbauten Athener Königspalast am Sýntagma-Platz, hielten Otto und Amalia an dieser heimatlichen Tradition fest. Weiter wird berichtet, dass im Jahre 1843 auch zum ersten Mal in einem bürgerlichen Haus ein Weihnachtsbaum stand, und zwar am Fuße der Akropolis, im vornehmen Heim des Naxioten Ioánnis Paparrigópoulos, seines Zeichens Botschafter für Russland in Athen. Ihm war der Weihnachtsbaum nicht fremd, hatte er ihn doch auf seinen ausgedehnten Reisen durch Europa schon öfter gesehen. Man sagt, er hätte sich den zwei Meter hohen Baum aus Russland mitgebracht und dann mit Kerzen und bunten Ornamenten geschmückt. Die zum Weihnachtsfest geladenen Bayern aus der Entourage des Königs waren natürlich hoch erfreut, nur ein griechischer General soll angeblich dem Botschafter süffisant zugeraunt haben: »Das haben Sie schön gemacht – aber in meinem Hause lasse ich keine Bäume sprießen. Bei mir sprießen nur Waffen!« [6]

Aber es sollte noch eine Weile dauern, bis die Griechen den Weihnachtsbaum akzeptierten: Ab den 1930er Jahren gab es auch in bürgerlichen Häusern und Wohnungen schon den einen oder anderen Weihnachtsbaum, aber erst ab der Mitte des 20. Jahrhunderts sollte sich schließlich diese vermeintlich traditionelle Weihnachtsdekoration auf den Straßen, Plätzen und in den Häusern Griechenlands etablieren [7].

Nichtsdestotrotz findet sich hier in Griechenland inmitten all der Weihnachtsbäume doch immer ein geschmücktes Boot, denn ganz darauf verzichten will diese tief im Herzen immer noch stolze Seefahrernation dann doch nicht, vor allem natürlich auf den Inseln. In den 1970er Jahren gab es gar Bestrebungen und Anträge, den Weihnachtsbaum auf öffentlichen Plätzen zu verbieten, um dem alten Brauch der geschmückten Boote wieder mehr Raum zu geben – aber natürlich war das nicht durchzusetzen [8]. Dennoch hat man den Eindruck, dass sich in den letzten Jahren das »Weihnachtsboot« zunehmend seine kulturgeschichtliche Daseinsberechtigung in Griechenland zurückerobert, sei es als Weihnachtsdekoration, sei es als kleines Mitbringsel (viele Kunsthandwerker und Kunsthandwerkerinnen hier in Griechenland bieten jedes Jahr um die Weihnachtszeit phantasievolle Kreationen zu diesem Thema an). Und jeder hier weiß, dass man nichts falsch machen kann, wenn man bei Weihnachts- oder Neujahrseinladungen den Gastgebern ein kunstvoll gestaltetes kleines Boot als Glücksbringer überreicht. Es ist einfach ein wunderschönes weihnachtliches Symbol, das mit der Geschichte und dem Selbstverständnis des Landes viel mehr zu tun hat als der »importierte« Weihnachtsbaum!

Fotos: privat

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