Verwunschene Bretagne

von Anja Weinberger

Kirchhöfe und Kulinarisches am Ende der Welt

In der Bretagne, also im äußersten Nordwesten Frankreichs, gibt es diese wundervollen, sagenumwobenen und meist sehr malerischen »Enclos parroissiaux«. Solch umfriedete Pfarrbezirke grenzen sich bewusst von der Außenwelt ab und kommen in dieser besonderen Form nur hier vor.

Durch den im 16. und 17. Jahrhundert aufblühenden Tuchhandel errang die ganze Gegend einen gewissen Wohlstand und ein wahrer Konkurrenzkampf um den schönsten und größten Calvaire begann.

Über 70 solcher Pfarrhöfe sind noch vorhanden.

Die meisten von ihnen befinden sich, grob gesagt, in der Nähe der nördlichen Atlantikküste zwischen Brest und Morlaix.

Genauer gesagt treffen wir auf sie zwischen den Flüssen Aulne und Élorn und an den Grenzen zu den Pays du Léon und der Cornouaille. Diese Gegenden gehören zum allergrößten Teil zum Département Finistère, also zum »Ende der Welt«.

Häufig besteht solch eine Gebäudeansammlung aus der Kirche selbst, dem Triumphtor, dem Friedhof, dem Beinhaus und eben dem Calvaire. Dieses Wort lässt sich nur unzureichend mit Kalvarienberg übersetzen, denn darunter verstehen wir im deutschen Sprachraum, wie wir bald sehen werden, etwas anderes.

Das Triumphtor oder der Triumphbogen ist der Eingang zum Pfarrgelände und  weist uns noch einmal auf dessen bewusste Abgrenzung von der Außenwelt hin. Denn hinter den Stufen dieser Eingangspforte befindet sich fast überall eine hohe, senkrecht ins Erdreich eingelassene Steinplatte, die man nur mit einem beherzten Schritt überwinden kann. Uns erinnert sie daran, dass wir hier einen besonderen Ort betreten – und die Toten dahinter werden auf diese Art vor Dämonen und der ewigen Verdammnis geschützt.

Der Triumphbogen selbst ist meist aufwendig geschmückt und gekrönt von einer Kreuzigungsgruppe.

Über 70 solcher Pfarrhöfe sind noch vorhanden.

Die meisten von ihnen befinden sich, grob gesagt, in der Nähe der nördlichen Atlantikküste zwischen Brest und Morlaix.

Genauer gesagt treffen wir auf sie zwischen den Flüssen Aulne und Élorn und an den Grenzen zu den Pays du Léon und der Cornouaille. Diese Gegenden gehören zum allergrößten Teil zum Département Finistère, also zum »Ende der Welt«.

Häufig besteht solch eine Gebäudeansammlung aus der Kirche selbst, dem Triumphtor, dem Friedhof, dem Beinhaus und eben dem Calvaire. Dieses Wort lässt sich nur unzureichend mit Kalvarienberg übersetzen, denn darunter verstehen wir im deutschen Sprachraum, wie wir bald sehen werden, etwas anderes.

Das Triumphtor oder der Triumphbogen ist der Eingang zum Pfarrgelände und  weist uns noch einmal auf dessen bewusste Abgrenzung von der Außenwelt hin. Denn hinter den Stufen dieser Eingangspforte befindet sich fast überall eine hohe, senkrecht ins Erdreich eingelassene Steinplatte, die man nur mit einem beherzten Schritt überwinden kann. Uns erinnert sie daran, dass wir hier einen besonderen Ort betreten – und die Toten dahinter werden auf diese Art vor Dämonen und der ewigen Verdammnis geschützt.

Der Triumphbogen selbst ist meist aufwendig geschmückt und gekrönt von einer Kreuzigungsgruppe.

Der Friedhof ist ein Friedhof, genau so, wie auch wir ihn kennen. Jedoch treten in dieser Gegend sehr häufig sogenannte knospende oder ausschlagende Kreuze auf. Darunter sind Steinkreuze zu verstehen, die an hölzerne Kreuze mit stehengelassenen Astansätzen erinnern sollen. Gerne werden sie als Lebensbäume gedeutet.

Beinhäuser, sogenannte Ossuarien, dienten lange Zeit lediglich der Platzersparnis. Denn in ihnen wurden die nach einiger Zeit ausgegrabenen Schädel und Knochen der Verstorbenen aufbewahrt. So konnten die nächsten Generationen der jeweiligen Gemeinde auf dem frei gewordenen Platz beerdigt werden. Bald wandelten sich diese Ossuarien jedoch zu überreich verzierten Kapellen, die neben der Kirche selbst als Andachtsräume genutzt wurden. Ihre Eingangsportale sind für die ja meist kleineren Gebäude ungewöhnlich groß und üppig gestaltet.

Die Kirchen der bretonischen Pfarrbezirke könnten malerischer nicht sein. In der Bretagne ist der abgebaute Stein, der Granit, sehr hart. Dementsprechend hielt die Renaissance hier auf ganz eigene Art Einzug. Fein ziselierte Schmuckformen waren kaum möglich, man musste sich auf das Wesentliche beschränken. Jedoch tat die Natur das Ihre. Wind und Regen glätten die Oberflächen; Moose und Flechten, die hier in großer Farbvielfalt vorkommen, bringen den dunklen Stein vielerorts zum Leuchten. Die überall und in allen Violett- und Rosaschattierungen gepflanzten Hortensien unterstreichen diese Schönheit mit großer Geste.

© Anja Weinberger

Ganz anders im Inneren der Kirchen. Aufwendige Holzarbeiten sind beinahe allerorts zu bestaunen – Altaraufsätze, Taufbecken, Lettner und Kanzeln, Emporen, Chorgestühl, Orgelgehäuse und allerlei Balken zeigen viel Florales, viel Kapriziöses, viel Groteskes.

An der Südseite der Kirche befindet sich mancherorts eine Vorhalle, die eine oder andere stammt noch aus der Gotik. Diese Halle war zur Versammlung der Gemeindeobersten bestimmt, weshalb an den Wänden Bänke verlaufen können. Über diesen Steinbänken stehen, meist in Nischen, die Apostel. Häufig zeigen sie uns ganz deutlich, wer sie sind. Da trägt Petrus seinen Schlüssel, Paulus hat Buch oder Schwert dabei  und Johannes den Kelch. Thomas erkennen wir am Winkelmaß und seinen Nachbarn Jakobus am Pilgerstab oder der Muschel. Die anderen Apostel weisen uns mit Beil, Säge, Kreuz oder Messer auf ihre jeweiligen Martyrien hin.

Meist steht die Größe der Kirche in einem erstaunlichen Missverhältnis zur niedrigen Einwohnerzahl der Gemeinde. Die eher bescheidenen, kleinen Dörfer trumpfen hier auf mit allem, was ihnen zur Verfügung stand.

Neben der Kirche ist der Calvaire der Mittelpunkt des Bezirks. Über einem Sockel erheben sich Steinplastiken, mit deren Hilfe Szenen aus dem Leben Jesu bildhauerisch dargestellt sind. Ganz oben ist fast immer die Kreuzigung abgebildet. Die Rückkehrer der Kreuzzüge brachten diese Erinnerungen an Golgatha mit; und hier in ihrer bretonischen Heimat sollten diese Geschichten in allgemein verständliche Bilder übersetzt werden. So sind oftmals auf engstem Raum unzählige Figurengruppen untergebracht – ein steinernes Mysterienspiel.

In anderen Teilen Europas finden wir diese Kreuzwegstationen meist an einem Spazierweg aufgereiht, hier im Finistère vereint in einem einzigen Monument.

 Es gibt sehr unterschiedliche Calvaires. Manche sind monumental, manche klein, einfach und still. Manche zeigen sich künstlerisch hochwertig, manche von bäuerlichem, schlichtem, teils naivem, aber immer sehr anrührendem Stil.

Sehr treffend schreibt Charles Le Goffic (1863 – 1932): »Ein kräftiger Idealismus durchblutet diese […] Friese. […] Die bretonische Seele bebt in ihnen und lässt sich hier in einer ihrer ergreifendsten Kundgebungen fassen.«

 Wenn man möchte, kann man einen Großteil dieser Pfarrbezirke an einem Tag mit dem Auto erkunden. Die Eindrücke sind vielfältig und vermutlich ist es deshalb sinnvoller und auch geruhsamer, sich zwei oder drei kleinere Runden zusammenzustellen. Ein weiterer Vorteil dieser letztgenannten Version wäre es außerdem, dass mehr Zeit für den kulinarischen Aspekt der Rundreise bleibt.

© Anja Weinberger

Hier ein paar persönliche Eindrücke …

Der erste Calvaire, den ich gesehen habe, ist bis heute der für mich eindrucksvollste. Er liegt außerhalb des oben beschriebenen Bereiches, etwas südlicher, nicht weit entfernt von Pont-l’Abbé, der Hauptstadt des Bigoudenlandes. Es handelt sich hier um den ältesten bretonischen Calvaire; er wurde zwischen 1450 und 1470 erbaut, um einiges früher also als seine nördlichen Nachbarn aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Einsam steht er neben der Kirche Notre-Dame de Tronoën und hält dort seit über 500 Jahren dem Wetter stand. An stürmischen Tagen trägt der Wind Sand und Salz vom nicht weit entfernten Meer bis hierher. Die Figuren sind den Elementen schutzlos ausgeliefert und das führt zu dieser einmaligen, zu Herzen gehenden, etwas verschwommenen Bildersprache.

Die Doppelfriese am Sockel erzählen von Kindheit und Passion Jesu – alles ist da: Verkündigung, Heimsuchung, Geburt, die Heiligen Drei Könige, die Darstellung im Tempel, die Verurteilung, die Geißelung, das Letzte Abendmahl und die Kreuztragung. Ganz oben schließlich, das Monument überragend, die dreifache Kreuzigung. Am Fuße eines der Schächerkreuze steht sogar Veronika mit ihrem Schweißtuch aus Granit. Unten am mittleren Kreuz, also am Kreuze Jesu, ist auf der Westseite eine verzweifelte Maria unter dem Kreuz dargestellt und auf der Ostseite Maria in tiefer Trauer mit ihrem toten Sohne auf dem Schoß, also eine Pietà. Das ganze Monument steht frei, man kann außen herum gehen und die Bilderfolgen erzählen lassen.

Beim Leiermann gibt es auch einen Kulturblog – hier ist der direkte Weg dorthin

Zwei Szenen sind eher selten anzutreffen, aber ausgerechnet hier finden wir sie beide. Einmalig innig empfunden: Maria im Wochenbett liegend, mit lockigem Haar und bloßen Brüsten, streckt ihre Arme dem Sohn entgegen. Und: Christus tritt nach seiner Auferstehung, mit wallendem Mantel und einem Spaten in der Hand als Gärtner verkleidet, der erschrockenen Maria Magdalena entgegen. »Noli me tangere« heißt diese Zweierszene, also frei übersetzt »Fass mich nicht an!«

Die Kapelle stammt aus der gleichen Zeit, ist nur ein paar Jahre älter als ihr Calvaire. Sie besitzt eine Fensterrose und einen grazilen Glockenturm, der von zwei weiteren Türmchen gerahmt wird. Die gelblich-grauen Flechten und Moose tragen das ihre bei zu dieser verwunschenen Erscheinung.

In Pleyben kann man Kunst und Gaumenschmaus miteinander verbinden. Hier gibt es die berühmten, sehr leckeren »Galettes de Pleyben«, bei denen es sich um mürbe und schmackhafte, vermutlich nicht gerade magere Butterkekse handelt. Und direkt neben dem örtlichen Enclos parroisial kann man in einer sehr netten Crêperie jene andere Köstlichkeit verzehren, die man im restlichen Frankreich unter dem Namen »Galette« kennt.

In Deutschland würden wir möglicherweise »Crêpes« zu jenen Pfannkuchen aus Buchweizenmehl sagen, aber der Franzose unterscheidet da streng.

 

»Une crêpe« ist ein Pfannkuchen aus hellem Weizenmehl und wird mit süßen Zutaten serviert. Zwei Klassiker sind »la crêpe Suzette flambée au Grand Manier« oder mein Favorit,  »la crêpe avec caramel au beurre salé«. Wer das noch nicht gegessen hat, weiß nicht, wie der Himmel schmeckt. Die gesalzene Butter trifft man hier allerorts und das daraus hergestellte Karamell ist eine begehrte Süßigkeit.

»Une galette« hingegen wird tatsächlich nur »salzig« serviert. Man kann wählen aus den unterschiedlichsten Belägen, von ganz einfach bis aufwendig und damit auch teurer. Der Klassiker heißt »une galette complète«, worunter man sich eine Füllung aus Schinken, Käse und Spiegelei vorzustellen hat. Dieses Ei wird so platziert, dass es aus dem kunstvoll zusammengeklappten Galette herausblinzelt.

Dazu gibt es Cidre oder ein bretonisches Bier, z. B. vielleicht ein »Blanche Hermine«.

Unsere Lieblingsspeisefolge sieht dann noch einen Kir breton als Aperitif und einen Lambig zum Nachdenken nach dem Essen vor.

Denn nachzudenken hat man hier immer und ständig. Vermutlich fand ja vor dem Essen ein Besuch auf der anderen Straßenseite statt, um den großartigen Kirchhof von Pleyben zu bestaunen. Hier ist alles weitläufig und gut zu überblicken, wirklich eingefriedet wirkt der Platz nicht. Eher macht er einen städtischen Eindruck, was auch daran liegen mag, dass bei der letzten Umgestaltung viel Grün entfernt wurde. Der Calvaire lag zuvor viele Jahrzehnte zwischen imposanten Bäumen und ist einer der schönsten der ganzen Bretagne.  

Eigentlich sind hier Triumphtor und Calvaire in einem verwirklicht, die Arkaden im beinahe etwas zu hohen Sockel lassen zumindest diesen Eindruck entstehen. Auch hier wird erzählt, was das Zeug hält. Über zweihundert Figuren bevölkern das Monument, sind hier klarer gezeichnet und deutlich zu erkennen. Die Szenen vor uns sind zwischen 1550 und 1650 entstanden – eine lange Zeit – und trotzdem ist kein Stilbruch zu bemerken. Wieder zeigt sich uns Erstaunliches: die Weihnachtsszene mit einem recht erwachsenen Jesusknaben, die Flucht nach Ägypten mit einem Faltenwurf an Marias Schleier, der den so harten Granit vergessen lässt; das wohlsortierte Letzte Abendmahl mit einem Johannes, der schläft, wie es sich gehört, und am spannendsten: der Schächer, der Christus verflucht, zu erkennen am Dämon, der auf dem Querbalken des Schächerkreuzes sitzt. Unter dem knospenden Kreuz ist die Kreuzabnahme dargestellt, Jesus liegt schon auf einer Bahre und Maria, Maria Magdalena, Johannes und drei andere Figuren haben Tränen aus Granit auf ihren Wangen.

Besonders schön ist die Kirche. Sie ist aus vielen Stilen zusammengewürfelt – quasi Patchwork – und das hat Charme. Das ursprüngliche Gebäude stammt aus dem Jahre 1564, ein Glockenturm ist, wie auch das sehr schöne Beinhaus, gotisch, versehen mit einer etwas ungelenken Balustrade, großen Fensteröffnungen und einer mit Krabben besetzten schlanken Turmspitze. Der andere, wesentlich höher und dominant, stammt aus der Renaissance. Beinahe erinnert dieser mit seiner Kuppel und der Laterne an die Renaissance-Schlösser der Loire. Er war Vorbild für viele Kirchtürme, die in der Folgezeit in der Umgebung entstanden. Zwischen den beiden so unterschiedlichen Turmgeschwistern ragt zaghaft noch ein drittes Türmchen empor, das als Treppenhaus dient und mit dem gotischen Bruder über eine durchbrochene Galerie verbunden ist.

Und dann gibt es noch die Sakristei, 1719 als Zentralbau erbaut. Man könnte meinen, sie sei ein Fremdkörper, aber nein, eher vervollständigt sie das Bild.

Eine Tagesfahrt könnte man z. B. durch das Tal des Flusses Élorn machen. Der Élorn entspringt in den sagenumwobenen Monts d’Arrée und fließt durch die Rade du Brest bei Landerneau in den Atlantik. Auf dieser Strecke sind auf engem Raum viele Pfarrhöfe versammelt.

Je nachdem in welche Richtung man unterwegs ist, trifft man eher am Anfang oder am Ende der Reise in La Roche-Maurice ein.

Dieser Kirchhof birgt einige Besonderheiten und ein suggestives, beinahe märchenhaftes Kircheninneres. Man muss Glück haben und die Kirche bei Sonnenschein besuchen, dann ist das bunte Lichterspiel unser Gastgeber.

Nun hat man die Fahrt durch das idyllische Tal also hinter sich, das an dieser Stelle sehr malerisch von der Ruine einer einstigen Burg aus dem 12. Jahrhundert beherrscht wird. Man stellt das Auto vielleicht in einiger Entfernung ab und schlendert anschließend gemächlich Richtung Kirchturm, der alles überragt. Hügelig ist es hier und ruhig. Der Eingang zum Pfarrbezirk wird von drei Kreuzen bewacht und gleich linker Hand steht das Beinhaus aus dem 17. Jahrhundert mit seiner wundervollen Renaissancefassade, die einem hier am »Ende der Welt« vorkommt, als gehöre sie zu einem Bühnenbild – unwirklich und doch so klar gezeichnet.

Über einem äußeren Weihwasserbecken ist ein »Ankou« abgebildet, nach bretonischer Überlieferung der personifizierte Tod. Er begrüßt uns mit seinem üblichen Satz »Je vous tue tous«, also »ich bekomme Euch alle«. Damit wird dieselbe Aussage unterstrichen, wie auch bei den z. B. in Norditalien zu findenden Totentänzen. Egal ob reich oder arm, Mann oder Kind, Bischof oder Bauer, der Tod macht alle gleich.

Nur ein paar Schritte sind es bis zur Kirche. Man tritt ein durch die Türe im untersten Stockwerk des Westturmes, der mit einer doppelten Galerie und einer durchbrochenen, steinernen Spitze in den Himmel ragt. In der französischen Sprache gibt es für diese Turmform das schöne Wort »flèche«, das auch Pfeil bedeuten kann.

Dann ist man drinnen und staunt. Alles bunt! Denn hier hat die Farbe eine doppelte Quelle. Einmal dominiert der einzige erhaltene Lettner dieser Gegend den Raum und er ist bunt bemalt, bunter, als man sich das vorstellen kann. Und: Bis jetzt haben wir auf dem Gelände keinen steinernen Calvaire entdeckt. Denn tatsächlich, es gibt ihn hier nicht.

In La Roche-Maurice ist er stattdessen gläsern und bunt in Gestalt des großen Chorfensters. 1539 wurde dieses Wunderwerk geschaffen und ist bis heute im Original erhalten. Liest man nach, so ist zu erfahren, dass das Fenster im nahen Quimper hergestellt wurde. Einflüsse vieler berühmter Namen der damaligen Zeit, von Dürer bis Bosch und Van der Weyden, sind verarbeitet. Wie auf einem steinernen Calvaire finden wir auch hier die bekannten Szenen. Allerdings fehlt der übliche erste Teil mit Szenen um die Geburt Jesu herum, denn dieses Fenster ist ein Passionsfenster. Fünfzehn teils lanzettförmige Bilder strahlen uns entgegen. Maria Magdalena ist einmal unter dem Kreuz wie eine italienische Fürstin dargestellt, weich im Ausdruck und mit fragendem Blick, die Arme geöffnet. Ein andermal, bei der Einbalsamierung, trägt sie eine flämische Haube. Links oben schultert Jesus sein Kreuz, rechts oben ist er schon wieder auferstanden.

Die andere Quelle dieser überschäumenden Farbigkeit befindet sich jetzt in unserem Rücken. Wir müssen also zurücktreten, um sie betrachten zu können. Am besten bleiben wir dabei genau im Mitteldurchgang des farbenfrohen Lettners stehen und schauen nach oben. Das komplette Renaissance-Bildvokabular entrollt sich hier vor unseren Augen; im modernen Sprachgebrauch würde man sagen »polychrome Eiche«. Fratzen und Grotesken aller Art, Arabesken, Bänder, Florales, Chimären, Putten, Einhörner – alles, was die bretonische Fantasie des Mittelalters hergab, ist hier versammelt.

Oberhalb dieses bunten Durcheinanders sind sowohl auf der Chor- als auch auf der Kirchenschiffseite jeweils 12 Statuen aufgereiht, ebenfalls farbig und liebevoll ausgestattet. Bei den Allermeisten ist zu erkennen, um wen es sich handelt. Auch hier ein Who’s who der Bibelkunde, also Petrus, Magdalena, Jakobus, Barbara und viele mehr.

 Am südlichen Pfeiler steht Anna, die Maria das Lesen beibringt, natürlich aus der Bibel; und am nördlichen Gegenstück betet eine sehr hübsche Margarete. Ganz zuoberst, wie erwartet, die Kreuzigung mit Maria und Johannes zu beiden Seiten.

Über all dem wölbt sich ein blau bemalter Himmel, der durch die typischen Sablières nach unten begrenzt wird. Auf diesen hölzernen, schmalen Bühnen, eben den Sablières, tummelt sich ein musizierendes oder typische Arbeiten verrichtendes kleines Volk auf engstem Raum, aber trotzdem dermaßen detailliert aus dem Holz gearbeitet, dass man nur staunen kann.

La Roche-Maurice wurde erst vor kurzem aufwendig restauriert und strahlt nun vermutlich noch heller, als ich das in Erinnerung habe.

 

Man könnte nach La Martyre weiterfahren, wo zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert wichtige Messen stattfanden. Die Anlage des Pfarrbezirkes ist entsprechend gehaltvoll und außergewöhnlich unterhaltsam.

Wenn man möchte, so kann man oben über das von außen mit einer hübschen Verkündigung geschmückte Triumphtor spazieren, direkt auf Höhe der Kreuzigungsgruppe. Oder man betrachtet das Portal der Kirchenvorhalle und tauscht Blicke aus mit Ochs und Esel, die aus der Weihnachtsgeschichte des Tympanons verschmitzt herunterschauen. Rechts am Türsturz spielt ein Hirte Golf (das war im 15. Jahrhundert ein gerade populär gewordener Sport der einfachen Leute) und wird dabei von einem übergroßen Verkündigungsengel überrascht.

Die Kirche hat einen schönen »flèche« und schmückt sich mit jeder Menge Giebeln, Türen und Fialen. Ein Ankou mahnt uns auch hier; die Kirchenfenster sind besonders schön und das Beinhaus wird von Karyatiden gestützt. Ich finde, kein Wunsch bleibt da beimBetrachter offen.

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Was fehlt noch?

Vielleicht ein Ausflug nach Daoulas? Dort gibt es einen sehr romantischen Kreuzgang neben der sehr alten Kirche, sein Zackenfries sagt uns, dass er aus der Romanik stammt. Wenig nur findet man in der Bretagne aus dieser Zeit und Kreuzgänge an sich sind hier rar. Die vielen Hortensiensträucher wissen augenscheinlich, wo es schön ist.

 

Oder das:

Von Pont l’Abbé aus erreicht man nicht nur schnell, wie oben beschrieben, den Calvaire von Notre-Dame de Tronoën, sondern auch nach einer schönen Fahrt, vielleicht an der Küste entlang, das Städtchen Pont-Croix. Einen Enclos parroisial gibt es hier nicht, aber hübsche Gässchen und nette Winkel. Man mache sich dann auf die Suche nach Notre-Dame de Roscudon und im Speziellen nach der südlichen Vorhalle. Wer bei diesem Anblick nicht in Verzückung gerät ob der naiv-kunstvollen Steinmetzkunst des Wimperges, der hat kein Herz im Leib.

 Oder man möchte den monumentalsten und am besten erhaltenen Pfarrhof der Bretagne sehen und ist gleichzeitig ein Barock-Junkie. Dann fährt man nach Saint-Thégonnec. Man weiß ja nun schon, welche Geschichten einen da so erwarten werden.

 Und möchte man noch einmal die volle Pracht der bretonischen Renaissance erleben, dann besuche man Commana, den höchstgelegenen Enclos am Fuße der Monts d’Arrée. Nicht das Triumphtor mit den drei Laternen ist es, nicht das Beinhaus mit seinen märchenhaften Fabelwesen oder die großartige Vorhalle mit allen vier Säulentypen. Nein, es ist die überbordende Innenausstattung der Kirche aus dem 17. Jahrhundert, die uns hierher führt. Alles aus farbigbemaltem Holz – der breite Annen-Altar, der Fünf-Wunden-Altar, die hölzerne, ins Kirchenschiff hineingestellte Taufkapelle – alles verschwenderisch verziert mit Blüten, Früchten, Medaillons und Figuren – die bäuerliche Renaissance in ihrer ganzen Pracht.

 

Wer immer noch nicht genug hat, der findet hier allerorts Interessantes:

 In Morlaix ein ungewöhnliches Stadtbild, in Concarneau eine »Ville close«, in Brest den Hafen und das »Océanopolis«, an der Küste imposante Leuchttürme und im Landesinneren schöne Schlösser.

 Die nördliche Bretagne ist ein außerordentlich vielfältiges Stückchen Erde.

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Allemann, Fritz René / Bahder, Xenia von: Katalonien und Andorra. Köln 1986.

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