Römische Reisenotizen
von Andrea Strobl
»Anderer Orten muß man das Bedeutende suchen, hier werden wir davon überdrängt und überfüllt. Wie man geht und steht, zeigt sich ein landschaftliches Bild aller Art und Weise, Paläste und Ruinen, Gärten und Wildnis, Fernen und Engen, Häuschen, Ställe, Triumphbögen und Säulen, oft alles zusammen so nah, daß es auf ein Blatt gebracht werden könnte. Man müßte mit tausend Griffeln schreiben, was soll hier eine Feder! und dann ist man abends müde und erschöpft vom Schauen und Staunen.«
Dies notierte Goethe am 7. November 1786, an seinem siebten Tag in Rom. Und so ähnlich ergeht es wohl den meisten Besuchern heute noch, wenn sie zum ersten Mal in diese Stadt kommen. Ich hatte für meine erste Romreise bewusst die ersten Märztage gewählt, nicht mehr ganz so kalt und vor allem noch vor der »Osterinvasion« der Gläubigen und dem anschließenden Besucheransturm des Sommers. Nur ganze fünf Tage hatte ich Zeit. Nun möchte man meinen, dass gerade so eine kurze Zeitspanne genaueste Planung verlangt, aber gerade dies liegt mir überhaupt nicht. Nur zwei Dinge standen auf meiner »to-do-list« in Rom: die Sixtinische Kapelle und die Pietà, Michelangelo pur also. Alles andere wollte ich dem Zufall oder, besser gesagt, der Stadt selbst überlassen.
Wenn auch stets mit vorheriger Lektüre über meine Reiseziele gewappnet, bin ich keine, die dann in kürzester Zeit so viele Sehenswürdigkeiten wie möglich »abklappern« will. Ich laufe auch nie mit einem Stadtführer in der Hand herum, ein Stadtplan (heutzutage ein Handy) reicht mir vollkommen – um am Ende des Tages zumindest meine jeweilige Bleibe wiederzufinden. Ich brauche immer viel Zeit, um einfach durch eine »neue« Stadt streunen zu können, denn ich muss zunächst ein Gefühl für eine Stadt bekommen, bevor ich mich auf ihre Sehenswürdigkeiten einlassen kann.
Dieses »Stadtgefühl« interessiert mich bei einem ersten Besuch mehr als jede Sehenswürdigkeit, denn dieses Gefühl kann ich verinnerlichen. Deshalb suche ich zunächst immer das Alltägliche: Gerüche, Geräusche, Farben, Unvorhergesehenes … Flaniert man jedoch in einer Stadt wie Rom ziellos durch die Straßen, kann man den Hauptsehenswürdigkeiten sowieso nicht »entkommen«:
Man geht ganz zufällig durch eine enge Straße und steht ganz plötzlich vor dem Trevi-Brunnen; streunt man weiter, befindet man sich auf einmal vor dem Pantheon, nur ein paar Schritte entfernt von der Piazza Navona, wo man den Bernini-Brunnen bestaunt und dann, am nahegelegenen Tiberufer, auf einmal die etwas entfernt im Dunst liegende Kuppel des Petersdoms erblickt – dabei stößt man an fast jeder zweiten Ecke auf eine interessante Kirche (über 900 Kirchen gibt es immerhin in Rom), von den antiken Stätten ganz abgesehen …
»Übersehen« kann man also fast nichts in Rom, zu dicht, wie auch Goethe schon bemerkte, liegt all das Sehenswerte dieser Stadt beieinander. Selbst wenn man sich keinen konkreten Plan gemacht hat, wird man »auf gut Glück« mehr als genug zu sehen bekommen – und das Schöne an diesen »Zufällen« ist gerade das umso größere Erstaunen, das dem Planmäßigen weniger innewohnt!
Daneben gibt es vor allem die alltäglichen Eindrücke: ein Geistlicher in weißer Kutte, der raschen Schrittes seines Weges geht, ein reizendes kleines Café namens »Novecento« (Alessandro Bariccos wunderbarer Roman und Bertoluccis cineastisches Meisterwerk kommen mir in den Sinn), eine Metzgerei, deren Schaufenster einem das Wasser im Munde zusammenlaufen lässt, ein wunderbares, engelumrahmtes Bild an einer Hausfassade, ein kleines Eckrestaurant (noch im Winterschlaf oder vielleicht längst aufgegeben?), ein Hinterhof mit einem verwitterten Brunnen und immer wieder diese schönen, alten Haustüren (verflucht sei mein schlechter Fotoapparat!). Aber auch ganz zufällige Begegnungen mit den Menschen der Stadt, ein kurzer Plausch mit einem Standverkäufer auf dem Campo de‘ Fiori oder ein freundlicher alter Herr neben mir auf einer steinernen Bank irgendwo am Straßenrand, der mir ganz unvermittelt erzählt, dass er Rom in seinem Leben noch nie verlassen habe …

© privat

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All diese Eindrücke lese ich auf, lasse das römische Leben an mir vorbeiziehen, höre die Menschen um mich herum reden und lachen, sehe sie gestikulieren, stelle belustigt fest, dass in Rom ein ähnliches Verkehrschaos herrscht wie zuhause in Athen, und entdecke ein kleines, unscheinbares Restaurant, in dem man für wenig Geld ein göttliches Nudelgericht in Trüffelsoße genießen kann: Linguine al tartufo! So verbringe ich eigentlich die meiste Zeit meines ersten Besuchs in der Ewigen Stadt: Ich lasse mich treiben, schaue mir an, was mir so zufällig »begegnet« auf meinen Streifzügen, und nehme die Stadt langsam in mich auf. Aber natürlich vergesse ich die beiden Sehenswürdigkeiten nicht, die ich »geplant« hatte: Rendezvous mit Michelangelo!
Nur eine kurze Schlange vor dem Petersdom, im Nu befinden wir uns in der Basilika. Mein erster Eindruck: Wie furchteinflößend sie auf mich wirkt, alles zu gewaltig, zu »laut«, zu selbstverliebt, zu ehrfurchtsgemahnend – und überall in kleinen künstlerischen Details der Tod (das Wort »Gottesfurcht« ist meine erste Assoziation). Aber dies sind nur spontane Gedankenfetzen, denn da ist sie endlich: Michelangelos Pietà – im Marienantlitz der Ausdruck des größten Schmerzes und gleichzeitig der tiefsten Liebe und Schicksalsergebenheit, den je ein Künstler einem Stück Stein abgerungen hat. Michelangelos Worte fallen mir ein: »Ich habe einen Engel aus Marmor gesehen und habe gemeißelt, bis ich ihn befreit hatte.«
Sicher hatte er auch beide Figuren der Pietà bereits gesehen, bevor er den Meißel ansetzte – und welche »Befreiung« ist ihm da gelungen! Ich stehe sehr lang vor dieser Skulptur, die sich erstaunlich klein ausnimmt inmitten dieses riesigen Bauwerkes – und doch beinhaltet sie für mich so viel mehr, als die gesamte Basilika in ihrer Gigantomanie auszudrücken vermag.
Giorgio Vasari bemerkt dazu in seinen Lebensläufen, »dass man in der Tat immer wieder erstaunt, wie die Hand eines Künstlers in so kurzer Zeit dieses Werk so göttlich und genau auszuführen vermochte. Sicherlich ist es ein Wunder, daß einem erst formlosen Stein allmählich eine Vollendung gegeben wurde, wie sie kaum die Natur im Fleische zu erreichen pflegt«. Tatsächlich ist diese Skulptur so außergewöhnlich in ihrer Ausführung (man beachte allein den Faltenwurf des Mariengewandes), dass man nicht umhin kommt, in den Gesichtsausdrücken und der Körperhaltung Marias und Christi eine Perfektion festzustellen, die der ganzen Skulptur eine Aura der Entrücktheit verleiht – dem Ort und dem Sujet durchaus angemessen.
Mir kommt der Gedanke, dass die Pietà eigentlich im Zentrum der Basilika, unter Berninis Baldachin, ihren Platz haben sollte … (und ich denke unvermittelt an die berühmte Fotoserie des Robert Hupka, der wie kein anderer diese Skulptur in den 1960er-Jahren in seinen Schwarz-Weiß-Bildern in Szene setzte und ihr damit eine weitere künstlerische Dimension hinzufügte.)
Am Tag darauf geht es dann gleich noch einmal zum Vatikan, diesmal in die Vatikanischen Museen, um die Sixtinische Kapelle zu besuchen. Allein schon der Weg durch die Gänge zur Sistina ist gepflastert mit Kunstgeschichte pur, wobei die in den Vatikanischen Museen ausgestellten oder zum Bauwerk selbst gehörenden Artefakte dem Besucher schier den Atem rauben und man schon völlig erledigt ist, bevor man am Ende die Sixtinische Kapelle betritt. Am liebsten hätte ich mich flach auf den Boden gelegt, um erst einmal zu verschnaufen und dann die Deckenfresken in Ruhe (und ohne Nackenversteifung) betrachten zu können.
Ich denke unwillkürlich an Michelangelos Pietà vom Vortag: Dort diese so unendlich berührende Klarheit und Zartheit, hier hingegen das Überschäumende und Kraftvolle in Form und Farbe – Michelangelo: zwei Künstlerseelen in einer Brust … Giorgio Vasari berichtet von der Vollendung der Fresken in der Sistina: »Als sein Werk aufgedeckt wurde, strömte alle Welt herbei, und der blosse Augenschein genügte, um jedermann vor Bewunderung verstummen zu lassen.«
Auch der heutige Besucher verstummt angesichts dieser geballten schöpferischen Kraft, ganz still ist es um mich herum, trotz der zahlreichen Besucher. Zu sehr ist wohl jeder von uns mit Schauen beschäftigt, denn es ist unmöglich, alles in so kurzer Zeit angemessen wahrzunehmen, geschweige denn wirklich zu begreifen, was man da sieht, welche künstlerische Leistung sich vor dem Auge des Betrachters auftut – und da kann man noch so viel vorher über den Inhalt der Fresken gelesen haben. Das Auge muss und kann sich doch nicht entscheiden: Die Decke oder doch lieber das Jüngste Gericht? Oder die Seitenfresken?
Und so ist wohl ein jeder beim ersten Besuch der Sistina zweifelsohne überfordert. Man kann den Raum nur auf sich wirken lassen, das Auge des Betrachters muss sich erst an diese geballte Motiv- und Farbenpracht, diesen »künstlerischen Rundumschlag« gewöhnen. So stellte auch Goethe fest: »Und ich bin in dem Augenblick so für Michelangelo eingenommen, daß mir nicht einmal die Natur auf ihn schmeckt, da ich sie doch nicht mit so großen Augen wie er sehen kann. Wäre nur ein Mittel, sich solche Bilder recht in der Seele zu fixieren!«
Tritt man nach der Besichtigung ganz plötzlich hinaus auf die Straße, dauert es tatsächlich ein paar Augenblicke, bis man sich wieder an diese »profane« Umgebung gewöhnt hat. Und dazu mein Gedanke: Wie mag sich das eigentlich anfühlen für all die Geistlichen oder Angestellten, die das ganze Jahr über im Vatikan leben oder arbeiten? Gewöhnt man sich einfach an ein solches »Ambiente«? Nimmt man diese unermessliche Schönheit nach einiger Zeit überhaupt noch wahr? …
Rom – eine ganze Welt für sich. Rom muss man immer wieder besuchen oder länger dort bleiben. Jeder wird etwas finden, was ihn begeistern wird. Aber auch jenseits aller Kunst und aller Sehenswürdigkeiten hat Rom sein ganz eigenes »Leben«. Nach Rom kann, nein, muss man einfach süchtig werden …
Quellen
Goethe, Johann Wolfgang von: Italienische Reise. Frankfurt a. M. 1976
Vasari, Giorgo: Lebensläufe. Zürich 1974
Forcellino, Antonio: Michelangelo. München 2007
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