Pinzolo und Carisolo
von Anja Weinberger
Ein Ausflug in den Norden des Gardasees – auf den Spuren der Malerfamilie Baschenis
Zwei besondere Totentänze im Valle Rendena
War man schon dermaßen oft am Gardasee wie ich, so hat man natürlich auch den einen oder anderen Ausflug in die nähere Umgebung unternommen. Und bei einer dieser Rundfahrten – nach Bagolino – habe ich zum ersten Mal von den »Judikarischen Tälern« gehört. Alleine diese Wortkombination, weckt sie nicht Sehnsucht oder erinnert an Märchen, vielleicht auch an eine dieser modernen »Sagas«?
Klar, ich habe mich sofort belesen und erfahren, dass es sich um völlig »normale« Täler grobgesagt nordwestlich des Gardasees handelt. Der Name »Judikarische Täler« oder auch »Judikarien« findet sich bereits in einem Kaufvertrag zwischen dem Trentiner Bischof und den Skaligern aus dem Jahr 1349. Doch noch seit viel früherer Zeit, schon seit der Antike nämlich, sind diese Täler, eigentlich nicht im Trentino liegend, abgesichert durch eine Schenkungsurkunde, der Jurisdiktion (also der Rechtssprechung) von Trient unterstellt. Das italienische Wort »Giudicárie« entspricht unserem deutschen Wort »Gerichtsbezirk«. Gar nichts märchenhaftes stand da demnach Pate bei der Namensgebung, sondern die pure, praktische, tagtägliche Verwaltungsarbeit.

Chiesa di San Felice, © A. Weinberger
Aber etwas erscheint mir hier und in der näheren Umgebung doch außergewöhnlich und sagenhaft. Denn ab der Mitte des 15. Jahrhunderts taucht immer wieder der Name Baschenis auf, wenn es um die Freskierung der örtlichen Kirchen geht. Als weit verzweigte und umherreisende Malerfamilie schufen die Baschenis während mehrerer Generationen in der ländlichen, weit abgelegenen Gegend der Judikarien eine ganz eigene Kunst der Spätgotik und der beginnenden Renaissance. Ursprünglich stammt die Familie Baschenis aus dem Dorf Averara, gelegen östlich des Comer Sees und nördlich von San Pellegrino Terme und Bergamo. Eine Gegend, die wechselnde Herrschaft und karge Lebensumstände als dominantestes Merkmal vorzuweisen hat. Etwa ab 1450 zogen also Antonio, Angelo, Giovanni, Simone und Cristoforo Baschenis, um nur einige zu nennen, durch die einsamen Täler der Judikarien und brachten einen einzigartig und unverwechselbar gestalteten Abglanz der »großen« Kunst dorthin.
Ihre Themenwahl ist didaktisch und erzählerisch, die dargestellten Heiligen sind immer wieder die gleichen, nämlich die eines ursprünglichen, bäuerlichen Glaubens, wie die Märtyrerinnen Katharina, Barbara und Agata oder die sog. »Pestheiligen« Sebastian und Rochus. Häufig dargestellt wurde die Kreuzigung oder das letzte Abendmahl, die vier Evangelisten und neben oder mit ihnen die Kirchenväter.
Manche der Baschenis waren begabter, manche weniger talentiert, aber alle trafen sie mit ihrem Pinsel den Geschmack der Zeitgenossen. Und mit Simone II., dessen Leben von 1490 bis 1555 dokumentiert ist, erlebte die Kunst der Baschenis einen Höhepunkt. Zwei seiner Werke – eines aus der frühen Schaffenszeit und ein weiteres aus seinen späten Jahren – sind in der herrlichen Landschaft des Valle Rendena zu finden, in Pinzolo und Carisolo. Obwohl nur knapp 30 km entfernt von Trient in den sog. Inneren Judikarien liegend, erscheint diese schon lange besiedelte Landschaft beinahe, wie aus der Zeit gefallen. Im Osten ragt die Brenta-Gruppe empor, im Westen erhebt sich majestätisch das bis zu 3500 m hohe Adamello-Massiv; Hochgebirge also (auch der bombastisch ausgebaute und wie eine Fotomontage in der einsamen Bergwelt auftauchende Wintersport-Hotspot Madonna di Campiglio liegt keine 15 km entfernt).

San Stephano,© A. Weinberger
Und so stehen wir hier unter dem hellblauen Himmel, ein kühler Bergwind umweht unsere Nasenspitze, wir strecken unser Gesicht der Sonne entgegen und sind gespannt auf die Kunstwerke des Simone II. Baschenis. Denn er hat hier an und in zwei Kirchen sein berührendes Werk hinterlassen. Zwei Totentänze, die nicht zum üblichen Bildprogramm der Malerfamilie gehören, hat er im 16. Jahrhundert an die Außenwände der Kirchen Santo Stefano in Carisolo und San Vigilio in Pinzolo gemalt.
Wir fahren erst hinauf nach Carisolo; die hoch über dem Ort thronende Kirche Santo Stefano liegt auf einem Felssporn in luftiger Höhe über dem Fluss Sarca, der Kilometer weiter südlich zwischen Torbole und Riva den Gardasee speisen wird. Die schmale, kaum ausgebaute Straße schlängelt sich durch den Wald, und oben angekommen werden wir mit einem großartigen Blick über das Sarcatal bis nach Pinzolo belohnt. Die hoch aufragende Südwand des alten Gotteshauses hat Simone II. genutzt, um die Legende des namensgebenden Heiligen Stephanus darzustellen, eindringlich auf die Sieben Todsünden hinzuweisen und den ersten Totentanz der Malerfamilie Baschenis zu erschaffen. 1519 ist dieser entstanden und die grandiose Synthese aus Landschaft und Kunst lässt hinwegsehen über die – noch – geringere Qualität der Darstellung.
Im Inneren der Friedhofskirche, sollte man das Glück haben und sie ist geöffnet, kann man sich jedoch sogleich von der stetigen Verbesserung der Technik des Freskanten überzeugen, denn nachdem Simone 1534 eine hübsche Madonna mit Kind an die Außenwand der Kirche gebannt hat, erzählen seine Fresken von 1539 in Santo Stephanos Innenraum vom legendären Zug Karls des Großen über den Pass Campo Carlo Magno ganz in der Nähe.

San Stephano,© A. Weinberger

San Stephano,© A. Weinberger
Und in diesem selben Jahr 1539 hat Simone II. Baschenis auch seinen zweiten Totentanz geschaffen. Im nahe gelegenen Pinzolo, das sommers wie winters hauptsächlich von italienischen Touristen besucht wird, ist die Friedhofskirche San Vigilio leicht zu finden. Der eher gedrungene Turm überragt einen großen Kirchenbau. Auch hier ist es die südliche Außenwand, die unser Interesse auf sich zieht.
Denn direkt unter dem etwas vorspringenden Dach und vermutlich auch deshalb recht gut erhalten, tanzen Hofdamen und Äbtissinnen, Priester und Kardinäle, der Papst, ein Feldherr, ja ein Kind zu den Klängen der musizierenden Skelette. Das eindrucksvolle Fresko ist über 2 m hoch und mit 22 m genauso lang, wie das Kirchenschiff. Ganz links, also im Westen, sehen wir den gekrönten Tod, der mit dem Dudelsack zum Tanze aufspielt. In vorderster Front wird der Gekreuzigte vom Todespfeil der mit gefüllten Köchern bewaffneten Skelette getroffen; es folgen auf den Fuß Papst, Kardinal, Bischof und weitere kirchliche Würdenträger, alle selbstverständlich prächtig gekleidet.
Anschließend werden Kaiser und Kaiserin ins Visier genommen, Ritter und aufgeputzte Landsknechte. Mit hilflosen Gesten, erschrockenen Gesichtern und voll des Grauens sind die Abgebildeten das Zerrbild einer feudalen Ahnengalerie, eine ironische Darstellung des höfischen Prunks und Protzes. An den weit entfernten Renaissance-Fürstenhöfen wären solche Darstellungen wohl kaum möglich gewesen; Geld konnten Künstler dort nur mit der Verherrlichung ihrer Arbeitgeber verdienen. Aber hier in dieser grandiosen Bergkulisse finden wir Hohn und Spott im Übermaß. Die kunstvollen Fresken werden von Versen in mittelalterlichem Italienisch begleitet, die sinngemäß – und etwas verkürzt – Folgendes aussagen:
»Zum Tanze lade ich Herren und Vasalle, Arme und Reiche, Alte, Junge, Böse, Fromme. Sogar Gottes Sohn tanzt mit mir und ebenso der auf Petri Thron. Auch der Kaiser folgt meinem Winken, sein Gold und Geld hilft ihm nicht. Der Tod bin ich mit Zepter und Krone, alle lade ich zum Tanz, aus dem Volk und vom Throne.«

San Vigilio © A. Weinberger
Am Ende der illustren Aufreihung hat sich der Tod selbst auf einen geflügelten Schimmel geschwungen, Pfeil und Bogen im Anschlag, seine gefallenen Opfer säumen den Weg. Direkt vor ihm holt ein Kinderskelett, eine Zierstange mit wehendem Spruchband statt eines Marterwerkzeugs in der knochigen kleinen Hand, ein Kind in den Reigen der Tanzenden. »Du musst nicht weinen und traurig sein, mein hübsches, zartes Kindlein! Ich hole Dich doch nur zum Ringelreihen.« Und am östlichen Rand des Totentanzes finden wir noch ein weiteres von Simone II. Baschenis abgebildetes Figurenpaar: Der Erzengel Michael, die Seelenwaage balancierend, wendet sich Luzifer zu, der das Sündenbuch hochhält. Die beiden scheinen in ein interessantes Gespräch vertieft.


San Vigilio, © A. Weinberger
Wieso können wir ausgerechnet hier in der Abgeschiedenheit und spektakulären Natur des UNESCO-Schutzgebietes Adamello-Brenta diese erstaunlichen, freskierten Totentänze bewundern?
Vermutlich war es die »Fredaya de li Batuti«, die die Kirchen in Carisolo und Pinzolo ausmalen ließ. Die Bruderschaft, von Laien gegründet, hatte sich hauptsächlich karitativen, sozialen und pädagogischen Aufgaben verschrieben und auf diesem Wege ein gestärktes Selbstbewusstsein in die bäuerliche Bevölkerung getragen. Heute zeigt sich dieses Selbstbewußtsein nach wie vor in der starke Verbundenheit zur Scholle und der umgebender Natur und vielleicht auch in der hier häufig neben dem Italienischen und dem Deutschen anzutreffenden Mundart, die für unsere Ohren äußerst fremdartig klingt.
Ein einmaliges Erlebnis ist es, die Totentänze des Simone II. Baschenis in ihrer großartigen Umgebung aufzuspüren.
(Dieser Text ist auch erschienen im Band Schaurige Kulturgeschichten des Leiermann-Verlags.)
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