„Maria Gloriosa“ – die Stimme Erfurts
von Christian Bürger
Im Mittelturm des Erfurter Domes, der seit 1994 wieder Kathedrale des wiederbegründeten röm.-kath. Bistums Erfurt ist, hängt ein wahres Weltwunder. Die größte freischwingende mittelalterliche Glocke der Welt. Für viele Erfurter*innen verknüpfen sich mit dem Klang der großen Domglocke und ihrem tiefen Grundton „E“ viele Emotionen. Hierzu trägt auch nicht zuletzt ihre wechselvolle Geschichte bei, die in diesem Artikel kurz dargestellt wird.
Die heutige große Glocke des Domes, die den Namen „Maria Gloriosa“ – meist schlicht „Gloriosa“ genannt – trägt, wurde Juni 1497 durch Gerhard van Wou aus Kampen gegossen.
Bereits die sechste „Gloriosa“
Bereits 1251 wurde eine große Glocke für den heutigen Erfurter Dom, damals noch Stiftskirche St. Marien, mit dem Namen „Gloriosa“ gegossen. Nach gut einem halben Jahrhundert wurde diese unbrauchbar und aus diesem Grund wurde 1307 oder 1308 eine neue „Gloriosa“ gegossen. Diese wiederum musste bereits 1363 wieder umgegossen werden. 1416 brannten die Türme der Marienkirche, wobei das Feuer auch sämtliche Glocken zerstörte. Nach diesem Brand konnten erst 1423 neue Glocken und damit auch die nunmehr vierte große Glocke mit dem Namen „Gloriosa“ für den heutigen Dom gegossen werden.
Am 19. Juni 1472 erlebte Erfurt den größten Stadtbrand seiner Geschichte, der große Teile der überwiegend aus Fachwerkhäusern bestehenden Stadt in Schutt und Asche legte. Auch öffentliche Gebäude und zahlreiche Kirchen waren betroffen, so auch wieder die Marienkirche mit ihrer „Gloriosa“, die bei dem Brand schmolz. In der Folge wurde 1477 Meister Klaus von Mühlhausen mit dem Guss einer neuen großen Glocke betraut, die jedoch wiederum bereits zwei Jahre später durch einen Riss unbrauchbar wurde (1479).
Glockenguss mit weihevollem Zeremoniell
In der Folge begannen ab 1495 die Vorbereitungen für den Guss der heutigen, der sechsten großen Glocke des Namens „Gloriosa“. Im Sommer 1497 war es soweit. Gerhard van Wou traf in Erfurt ein, um neben der neuen großen Glocke weitere Glocken, unter anderem die große „Vincencia“ für die Severi-Kirche, zu gießen. Zu diesem Zwecke errichtete er mit seinen Mitarbeitenden die entsprechenden Anlagen direkt auf dem Kirchhof zwischen der St. Marienkirche (heute Dom) und der St. Severi-Kirche auf dem Domberg.
Am 7. Juli 1497, um 13 Uhr, wurde der Ofen angefeuert und um 22 Uhr war die Glockenspeise zum Guss bereit. Nun begann der zeremonielle Akt. Die Stiftsherrn des damaligen Kollegialstifts St. Marien zogen nun in feierlicher Prozession mit Fahnen, Kerzen, Fackeln und einer Monstranz, die eine geweihte Hostie enthielt, auf den Domhof und feierten, wie bei Glockengüssen noch heute üblich, einen Gottesdienst.
Am 8. Juli, um 1 Uhr nachts, konnte der Ofen angestochen werden und um 2 Uhr war der Guss der „Gloriosa“ vollendet und gelungen. Hierauf, so die Quellen, wurde durch die Domherren feierlich das „Te Deum laudamus“ gesungen. Die nächtliche Zeremonie bei Fackel- und Kerzenschein, begleitet von gregorianischem Gesang, muss zweifellos ein beeindruckendes Bild geliefert haben.
Die Glockenweihe erfolgte am 16. August 1498 durch den in Erfurt residierenden Mainzischen Weihbischof Johannes Bonemilch Laasphe. Laasphe hatte sich stark für den Guss der neuen „Gloriosa“ engagiert und ist nicht nur deswegen im Gedächtnis Erfurts geblieben, sondern auch, weil er 1507 den Augustinermönch Martin Luther in der Kilians-Kapelle des Erfurter Domes zum Priester weihte (natürlich ohne dessen künftige Bedeutung erahnen zu können).
Technische Meisterleistungen beim Einbau
Am 19. Mai 1499 läutete die „Königin der Glocken“ zum ersten Mal in ihrer Stube im mittleren Turm des Domes. Ihr voller Klang war damals bis zu 20 km weit im Erfurter Umland zu vernehmen. Dem vorausgegangen war ein aufwendiger Einbau unter den Bedingungen und technischen Möglichkeiten des ausgehenden Mittelalters. So wurden vor dem Einbau der Glocke die Zwischengeschosse des Turmes durchbrochen und die Glocke anschließend, mithilfe einer hölzernen Zugvorrichtung, im Turminneren in die Glockenstube emporgehoben. Anschließen wurden die Turmgeschosse wieder eingezogen und mit massiven Gewölben versehen. Erhaltene Rechnungen legen von diesen Baumaßnahmen Zeugnis ab.
Als 1717 die Domtürme erneut brannten, wurde die „Gloriosa“, fast wie durch ein Wunder, nicht beschädigt. Wahrscheinlich waren die massiven, 1499 eingezogenen, Gewölbe verantwortlich dafür, dass das Feuer die Glocke nicht erreichen konnte. Nach dem Brand wurden die Türme provisorisch wiederhergestellt.
Beschädigung und erste Rettung
Eine nachhaltige Schädigung der Glocke erfolgte jedoch durch Fehler in der Behandlung der Glocke Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. 1899 wurde die Glocke um 90 Grad gedreht, ironischerweise mit der Begründung, die Glocke schonen zu wollen. Glockengießer warnten vergebens vor diesem Schritt. 1927 wurde zusätzlich ein viel zu großer Klöppel eingebaut, der nunmehr mit dem dreifachen des ursprünglichen Gewichts gegen die Glocke hämmerte. Wollte man mit dieser Maßnahme den Klang der Glocke verbessern, zerstörte man sie damit. Am Heiligen Abend 1984 bemerkte man an der fast 500 Jahre alten Glocke einen Riss, der 1985 durch die Nördlinger Firma Hans Lachmayer vor Ort in der Glockenstube aufwendig behoben wurde.
Zweite Rettung
Bereits 18 Jahre später tauchte jedoch, aufgrund von Materialermüdung, ein neuer Haarriss an der Glocke auf, der nicht mehr vor Ort behoben werden konnte.
Die Glocke wurde in einem aufwendigen Verfahren ausgebaut, die Außenmauer des Mittelturms durchbrochen, die Glocke mithilfe eines Kranes herabgehoben, verladen und nach Nördlingen verbracht, wo sie erfolgreich restauriert wurde. Nach erfolgter Reparatur in Nördlingen, wurde sie im September 2004 wieder eingebaut. Am 08. Dezember 2004 (Fest Maria Empfängnis) läutete die „Gloriosa“ erstmals seit der Reparatur wieder.
Aus konservatorischen Gründen wird die Glocke nur zu den kirchlichen Hochfesten, Marienfesten und ausgewählten Anlässen geläutet. Die Termine werden in einer jährlich aktualisierten Läutordnung festgelegt und bekannt gegeben. Wer die Glocke nicht nur hören, sondern auch sehen möchte, kann dies heute im Rahmen von Turmführungen erleben, die regelmäßig durch die Dominformation angeboten werden. Mit ihren ca. 11,5 Tonnen Gewicht, einem Durchmesser von 2,50 m und einer Höhe von 2,62 m beeindruckt sie nicht nur akustisch, sondern auch optisch.
Bedeutung
Die Erfurter „Gloriosa“ ist, wie beschrieben, mit ihren beeindruckenden Ausmaßen die größte mittelalterliche freischwingende Glocke der Welt. Diese Formulierung mag sperrig klingen, sie ist aber wichtig, denn es gibt durchaus größere Glocken aus der Zeit zwischen 500 und 1500, diese schwingen aber nicht frei. Ferner gibt es größere freischwingende Glocken, diese sind aber nicht aus dem Mittelalter. Größte freischwingende Glocke der Welt war bis 2016 die große Glocke des Kölner Domes, der 1923 im ebenfalls thüringischen Apolda gegossene „Decke Pitter“.
Die aktuell größte freischwingende Glocke der Welt, mit über 25 Tonnen Gewicht, goss die österreichische Firma Grassmayr 2016 für das orthodoxe Patriarchat von Rumänien. Dieses baut in Bukarest derzeit seine neue Hauptkirche, die „Kathedrale der Erlösung des rumänischen Volkes“, welche 2023 vollendet werden soll. Hier hat die „Andreasglocke“, als größte freischwingende Glocke der Welt, bereits ihren Platz gefunden.
Volkskundlich betrachtet, entfaltete die Geschichte der „Gloriosa“ auch Wirkung auf die Sagenbildung. Da den Vorgängerinnen der heutigen Glocke keine lange Lebensdauer beschieden war, entstand die Sage, dass sich der Teufel gegen die Glocke verschworen habe. Wie bei Sagen jedoch üblich, stimmen die zugrunde liegenden Fakten nur zum Teil.
So waren die Lebensdauern der Vorgängerglocken nicht immer genau 56 Jahre lang, wie die „Sage von der Erfurter Gloriosa“ zu berichten weiß. Zudem waren immer rationale Ursachen für die Zerstörung bzw. Unbrauchbarkeit der Glocken verantwortlich. Dennoch legt diese Legendenbildung Zeugnis von der Faszination ab, die die „Stimme Erfurts“ seit jeher auf die Menschen ausübte.
Diese Bedeutung der „Gloriosa“, die eher auf der emotionalen als auf der rationalen Ebene zu suchen ist, scheint auch der Grund dafür zu sein, warum man sich in Erfurt – einer Stadt in der die Mehrheit der Bevölkerung sich heute nicht mehr zum christlichen Glauben einer der beiden großen Kirchen bekennt und in der die Katholik*innen eine kleine Minderheit sind – trotzdem dieser Glocke so verbunden fühlt. Als die Glocke der Rettung bedurfte, spendeten und hofften nicht nur Christen, sondern Menschen aus allen Gesellschaftsschichten und Weltanschauungen auf Rettung IHRER „Gloriosa“.
Die Gloriosa scheint ein „Teil der Seele Erfurts“ zu sein. Genauso, wie die Silhouette von Dom und Severi ist sie ein Zeichen für Heimat und stiftet ein Gefühl der Zugehörigkeit, ähnlich wie man es auch in Bezug auf den Dom in Köln, auf die Hauptkirche St. Michaelis in Hamburg und auf die Frauenkirche in Dresden beobachten kann.
Verwendete Literatur
Literatur
Seidel, Ulrich: Gloriosa: Rettung einer Glocke. Erfurt 2005 (=Heimatarchiv).
Verlagshaus Thüringen (Hg.): Gloriosa. Königin der Glocken. Erfurt 1997.
Onlinequellen
N. N.: Rettung für Königin der Glocken. (https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/erfurt-rettungsaktion-fuer-die-koenigin-der-glocken-1175272.html, letzter Abruf: 12.09.2021).
Stein, Jan Hendrik: Kölner Petersglocke auf Platz 2 verwiesen. Staffelstab übergeben. (https://www.domradio.de/themen/kultur/2018-11-28/staffelstab-uebergeben-koelner-petersglocke-auf-platz-2-verwiesen, letzter Abruf: 12.09.2021)
Vedder, Hagen: Animation des Ausbaus der Glocke. [Video] YouTube. (https://www.youtube.com/watch?v=Ql2XNyCr0NI, letzter Abruf: 12.09.2021).
Wollen Sie immer über die neuesten Aktivitäten beim Leiermann informiert werden?
Der Leiermann wird zu 100% privat getragen, organisiert und voran gebracht. Mit Ihrer Unterstützung könnten wir noch mehr schaffen.