»In einer kleinen Stadt«

 

von Meike Dahlström

»In einer kleinen Stadt« [1] – Hermann Hesses Calw im Überblick

Die schönste Stadt von allen aber, die ich kenne, ist Calw an der Nagold, ein kleines, altes, schwäbisches Schwarzwaldstädtchen. [2]

Dank Hermann Hesse (1877-1962) wurde Calw, das kleine verträumte Fachwerk-Städtchen im nordöstlichen Schwarzwald, weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt. In seinen frühen Erzählungen macht er der schwäbischen Kleinstadt unter dem Decknamen »Gerbersau« eine innige Liebeserklärung; schafft ihr mit seinen Kindheits- und Jugenderinnerungen ein Denkmal als Sehnsuchtsort. Der Schriftsteller und seine kleine Stadt sind heute so eng miteinander verbunden, dass Calw ohne Hesse weder gedacht noch beschrieben werden kann – und will: Seine Spuren sind allgegenwärtig und begleiten Einheimische wie Tagesausflügler auf Schritt und Tritt.

Calw als große Kreisstadt hat heute knapp 28.000 Einwohner und zählt zur Randzone der europäischen Metropolregion Stuttgart. Geographisch liegt der Ort in Württemberg und die historisch geprägte Verbundenheit zur gut 30 Kilometer entfernten ehemaligen Residenzstadt Stuttgart ist spürbar: 1872 war die Königlich Württembergische Schwarzwaldbahn von Stuttgart nach Calw eröffnet worden und brachte einen neuen Ansturm an Ausflüglern und Kurgästen zur Sommerfrische in die Heil- und Badeorte des Nordschwarzwalds. Ein amüsanter Sachverhalt: Obwohl sich Calw im schwäbischen Teil Württembergs befindet, gehört es zum badischen Regierungsbezirk Karlsruhe. Calw liegt außerdem an der Deutschen Fachwerkstraße. Dank der gepflegten und liebevoll renovierten Fachwerkhäuser in der Altstadt ist es ein Leichtes, das einstige mittelalterliche Treiben und Getümmel auf dem Marktplatz vor dem geistigen Auge vorbeiziehen zu lassen.

Calw, © Meike Dahlström

Hermann Hesse, Portrait und originale Schreibmaschine; Hermann Hesse Museum; © LiliGraphie

Calw ist im wahrsten Sinne die Bilderbuchvorlage einer Kleinstadt – mit engen, verwinkelten Gassen aus Kopfsteinpflaster, die einen auf den ersten Blick glauben lassen, dass hier die Zeit stehengeblieben ist. Es fällt dem Besucher nicht schwer sich vorzustellen, wie die Stadt auf Hesse gewirkt haben mag; wie er als kleiner Bub und später als Jugendlicher durch die Stadt spaziert ist, alles und jeden beim Namen gekannt hat. Es gibt herrliche, fast schon märchenhaft anmutende Ecken in Calw: einen großen Marktplatz umrahmt von prächtigen Fachwerkhäusern in bunten Farben, einen üppigen Stadtgarten, in dem der Spaziergang auch für Literaturinteressierte dank der ausgestellten Tafeln mit Hesse-Gedichten und Stadtbildern aus seiner Zeit garantiert nicht langweilig wird und nicht zu vergessen malerische Brücken über die Nagold, die immer noch »mit sanftem helltönigem Rauschen« dahinfließt wie einst in Hesses Jugendjahren.

Calw, © Meike Dahlström

Calw, © Meike Dahlström

Auf dem Wahrzeichen Calws, der um 1400 erbauten Nikolausbrücke, befindet sich eine Hermann Hesses Wesen und Statur einfühlsam nachempfundene Bronzeskulptur mit dem Titel »Der Wandervogel«. So kann er bis heute von seinem Lieblingsplatz aus Kindheitstagen auf das still dahinziehende Wasser hinabblicken:

Ich blieb eine gute Weile auf der alten Brücke stehen […]. Über das nahe Wehr rann mit sanftem helltönigem Rauschen das Wasser, weiter unten auf der Insel lärmten in Scharen die Enten, auf diese Entfernung tönte auch ihr […] Gequake sanft und eintönig und hatte gleich dem Strömen des Flusses übers Wehr jenen zauberischen Klang von Ewigkeit, in den man versinken […] konnte […]. Ich stand und schaute, stand und lauschte, zum erstenmal an diesem Tage war ich für eine kleine Weile wieder in jener holden Ewigkeit, in der man von Zeit nichts weiß.

Entgegen dieser malerischen Beschreibungen findet der Besucher allerdings auch schmutzige Einfahrtsstraßen mit grauen Häuserfassen, Verkehrslärm, Billigläden und wuchtigen Einkaufszentren. Die Stadt ist kein phantastischer Märchenort, aber sie lädt alle, die Hesse näherkommen möchten, zum Wandeln, Rückbesinnen und zum Träumen ein.

Marktplatz Calw, © atosan

Die Calwer sind die Touristenströme längst gewohnt: Die Innenstadt ist mit ihrer Fußgängerzone auf literarische Spaziergänger und bummelnde Gäste ausgelegt; es gibt allein in der Innenstadt vier Parkhäuser, dutzende Restaurants und Straßencafés und fast noch mehr Museen, historische Bauwerke und Veranstaltungen, allen voran der Gerbersauer Lesesommer, sowie geführte literarische Spaziergänge.

Es gibt vieles zu entdecken, für Hermann-Hesse-Liebhaber, aber auch für historisch Interessierte. Erste Adresse ist das Calwer Stadtmuseum, das sich seit 1964 im Palais Vischer in der Bischofstraße befindet. Das prunkvolle Bürgerhaus wurde Ende des 18. Jahrhunderts im Stil Louis-Seize errichtet. Derzeit wird hier auch eine Präsentation zu Hermann Hesse gezeigt, da das Literaturmuseum im historischen Stadtpalais »Haus Schütz« am Marktplatz wegen Sanierungsarbeiten bis Frühjahr 2023 geschlossen ist.

Nur ein paar Häuser entfernt vom Palais Vischer, ebenfalls in der Bischofstraße, liegt direkt neben dem Calwer Bahnhof das Elternhaus Hermann Hesses, das allerdings nach Renovierung und Umbau seine klassizistische Fassade eingebüßt hat und kaum mehr an das herrschaftliche Gebäude von einst erinnert. Im selben Haus befand sich außerdem der theologisch ausgerichtete »Calwer Verlagsverein«, der von Hesses Großvater und nach dessen Tod vom Vater weitergeführt wurde. Beide Männer lebten für die pietistische Mission und haben mit ihrer Weltanschauung den jungen Hermann Hesse in seinem Fühlen und Erleben tief geprägt.

Calw, © Meike Dahlström

Für den optischen Verlust des Elternhauses kann das unter Denkmalschutz stehende Geburtshaus Hermann Hesses aus dem Jahr 1692 entschädigen: Das schmucke Fachwerkhaus am Marktplatz 6 mit seinen bunten Blumenkästen und dem nur einen Steinwurf entfernten Unteren Marktbrunnen mag auch vor fast 150 Jahren nicht viel anders ausgesehen haben – von dem kleinen Modegeschäft im Erdgeschoss einmal abgesehen. Geradezu traumversunken wirkt es, wohlig eingeschmiegt in das geschlossene Fachwerkensemble des Calwer Marktplatzes. Mit drei Plaketten am Eingang wird die Erinnerung an Hermann Hesses Geburtshaus wachgehalten.

Auch wenn es dem empfindsamen Literaten und Freigeist in Calw schon bald zu eng wurde und es ihn als »Wandervogel« in die Ferne zog, blieb ihm das Städtchen zeitlebens in liebevoller Erinnerung. Zwar hat er seine Heimatstadt nach seiner Abreise 1895 nur noch wenige Male wiedergesehen, doch in seinen Erzählungen bleibt seine »kleine Stadt« für immer lebendig und unvergessen:

Du wanderst in andere Länder, die schöner und sonniger sind. […] Das ist nun dein Paradies – aber warte noch, ehe du es lobst! […] Und die Zeit kommt, da du die Berge ersteigst, um von dort die Stelle des Himmels zu suchen, unter welcher deine alte Heimat liegt. Wie waren dort die Hügel weich und grün! Und du weißt und du fühlst, dort steht noch das Haus und der Garten deiner ersten Kinderspiele und dort träumen alle heiligen Erinnerungen deiner Jugend, und dort liegt das Grab deiner Mutter. – So ist dir die alte Heimat ungewollt lieb und fern geworden.

Mehr von Meike Dahlström gibt es hier zu lesen – »Beruf und Berufung«, ein Buch über Adalbert Stifter uns sein »sanftes Gesetz«.

Fußnoten

1 … Arbeitstitel eines Romanfragments von Hermann Hesse aus den Jahren 1906-1909.

2 … Die Zitate stammen aus Hermann Hesses Erzählung Heimat (1918).

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