Die Metropolis Thuringiae
von Christian Bürger
Erfurt liegt seit 1990 wieder in der Mitte Deutschlands und hat seitdem einen kontinuierlichen Aufschwung genommen. Die Wenigsten werden allerdings auf Anhieb, an Erfurt als mittelalterliches Zentrum denken.
Um 1500 jedoch reihte sich Erfurt, neben Prag, Köln, Frankfurt (Main) oder Lübeck, unter die Top 10 der Städte des Heiligen Römischen Reiches ein. Das späte Mittelalter war die Blütezeit der 742 erstmals urkundlich erwähnten Stadt, die erst seit Ende des II. Weltkriegs bzw. seit der deutschen Wiedervereinigung politisch wirklich zu Thüringen gehört. Dies klingt zweifellos paradox, aber Erfurt gehörte politisch seit ca. 1000 zum Erzbistum Mainz und nach dessen Ende bis 1945 zu Preußen. Denn die erste Thüringer Landesgründung fand 1920 ohne die Integration Erfurts statt.
Aufstieg
Der Aufstieg der Stadt begann im ausgehenden Hochmittelalter. Die Lage Erfurts als zentraler Handelsplatz und Messestadt sowie die Verarbeitung und der Handel der Blaufärbepflanze Färberwaid (Isatis Tinctoria) ebneten den Weg zur mittelalterlichen Metropole. Die Führungsschicht der Erfurter Bürgerschaft [„Gefrunden“ (=Patrizier)] war selbstbewusst und wohlhabend. Es gelang, gegenüber dem Mainzer Erzbischof als Stadtherrrn Rechte und Privilegien durchzusetzen bzw. ihm diese abzukaufen. Dabei spielte die chronische Geldnot des Mainzer Stuhls den aufstrebenden Erfurter Bürgern zweifellos in die Hände. Gute Kontakte zum Deutschen König, Bündnisse mit anderen aufstrebenden Städten und die Mitgliedschaft in der Hanse taten ihr Übriges. Wirtschaftlich potent und politisch gestärkt gelang es der Stadtgemeinde im späten Mittelalter ein eigenes, vom Mainzer Erzbischof unabhängiges Landgebiet zu erwerben und zu arrondieren. Zweitweise gehörten über 100 Dörfer und Städte zum Erfurter Landgebiet. Zentral in dieser Expansionspolitik war der Erwerb des reichsunmittelbaren Lehens Kapellendorf im Jahr 1348, welches Erfurt die faktische (nicht die rechtliche) Reichsunmittelbarkeit brachte. Mit dieser Erwerbung war der Zenit erreicht.
„Halbe“ Reichsfreiheit
Die Erfurter Stadtgemeinde hatte im Laufe des späten Mittelalters erhebliche politische Selbstständigkeit erworben. Wirklich Freie Reichsstadt wurde die Stadt jedoch niemals. Woran dies liegt ist umstritten. Eine These lautet, dass politische Bestrebungen hierzu zwar gegeben, sie aber zu keiner Zeit politisch durchsetzbar gewesen wären. Eine andere Lesart führt an, dass man sich mit der faktischen Reichsunmittelbarkeit über das Lehen Kapellendorf deshalb begnügte, weil man sich nicht zum Gegenstand königlicher Machtpolitik machen lassen wollte, was man als Reichsstadt gegebenenfalls gewesen wäre.
Es wird angeführt, dass man in Erfurt an den beiden Reichsstädten im Thüringer Raum, Mühlhausen und Nordhausen, mit welchen man im Thüringer Dreistädtebund alliiert war, absehen konnte, dass einer Reichsstadt Verpfändungen, Abgabenlasten und Kriegslasten drohen konnten. Somit habe man sich eher für die Fortführung eigenständiger Politik, unter relativ schwachen Mainzer Stadtherrn, entschieden.
Mittelalterliche Großstadt
Um 1500 hatte Erfurt 18.000 bis 20.000 Einwohner*innen. Damit war Erfurt eine der zehn größten Städte des Reiches und hatte einen Bevölkerungshöchststand erreicht, der bis zum Ende der frühen Neuzeit nicht mehr übertroffen werden sollte.
Niedergang
Ende des 15. Jahrhunderts nahm der politische Druck durch die in Thüringen die Hegemonialmacht anstrebenden ernestinischen Kurfürsten von Sachsen und den erstarkenden Mainzer Kurfürsten erheblich zu. Dies wirkte sich auch erheblich auf den Handel aus, von dem Erfurt abhängig war. Die Stadtgemeinde war zum Abschluss der nachteiligen Verträge von Amorbach und Weimar gezwungen. Eine Folge dieser Vertragswerke waren erhebliche Kontributionen, die die Stadt auf Dauer nicht tragen konnte.
Zum Abstieg trugen auch der Niedergang des Waidhandels und die kaiserlich geförderte Konkurrenz durch die aufstrebende mitteldeutsche Messestadt Leipzig erheblich bei. 1509 war Erfurt finanziell am Ende. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung brach sich Bahn. Im sogenannten „Tollen Jahr von Erfurt“ 1509/1510 wurden die bisherige Ratsverfassung beseitigt, die bisherigen Stadtoberhäupter strafrechtlich belangt und der Bürgermeister hingerichtet.
Zentrum der Reformation
Die Reformation fand in Erfurt einen ihrer Ausgangspunkte, hatte Martin Luther doch an der 1392 eröffneten Universität studiert und war von 1505 bis 1511 Mönch im Augustiner-Eremitenkloster. 1530 wurde mit dem Mainzer Stuhl der Hammelburger Vertrag geschlossen, der die mittlerweile mehrheitlich evangelische Stadt mit katholischem Stadtherrn zur bikonfessionellen Stadt machte und die Kirchen gleichberechtigt an die beiden Konfessionen verteilte. Die damals festgelegte Aufteilung der Sakralbauten ist noch heute nachzuvollziehen.
Mainz und Preußen
In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erlebte Erfurt noch einmal eine wirtschaftliche Blüte, welche aber mit dem Dreißigjährigen Krieg ihr Ende fand. Im Bündnis mit dem Schwedischen Königshaus hatte sich Erfurt die Erlangung der Reichsfreiheit bzw. zumindest die Freiheit von den Mainzer Stadtherrn durch schwedische Vorherrschaft erhofft. Im Westfälischen Frieden wurde Erfurt die Reichsfreiheit jedoch versagt und die Unterstellung unter die Mainzer Kurfürsten bestätigt.
In den Folgejahren verweigerte sich Erfurt der Restitution, was die Verhängung der Reichsacht und die Unterwerfung Erfurts zur Folge hatte (1665). Die Ambitionen Erfurts auf Unabhängigkeit waren damit endgültig gescheitert.
Nach der Restitution folgte die Phase der kurmainzischen Dominanz, die Zugehörigkeit zum Königreich Preußen ab 1802, unterbrochen durch Napoleonische Besatzung, die Zugehörigkeit zur DDR und seit 1990 zum Freistaat Thüringen und der Bundesrepublik Deutschland.
Nihil sub sole perpetuum
Am Beispiel Erfurts kann man ablesen, dass Stadtgeschichte nicht immer eine endlose Erfolgsgeschichte sein muss. Die Glanzzeit war zwar nicht allzu kurz, blieb aber eine Episode. Es gelang nie wieder an die Blütezeit im späten Mittelalter anzuknüpfen. Damals wenig bedeutende Städte wie etwa Dresden, Berlin oder München sind heute erheblich bedeutender und die Stadt, die einst in einem Atemzug mit Nürnberg, Frankfurt (Main) und Augsburg genannt wurde, wurde zur Provinzstadt.
Erfurt als touristisches und kulturelles Zentrum
Was bleibt, ist eine große, spannende und vielgestaltige Geschichte. Es bleibt eine der besterhaltensten, im Kern, mittelalterlichen Altstädte Deutschlands mit dem größten erhaltenen Anteil mittelalterlicher Bausubstanz, nach Regensburg. Im II. Weltkrieg wurde die Erfurter Altstadt nur zu 5 % zerstört und zahlreiche bedeutende Denkmäler blieben verschont oder wurden rekonstruiert. Es bleibt die größte freischwingende mittelalterliche Glocke der Welt (Gloriosa im Dom), es bleibt die älteste erhaltene Synagoge Europas, es bleibt eine Unzahl an Kirchen und Bürgerhäusern, es bleibt die einzig vollständig bebaute und bewohnte Brücke (Krämerbrücke) nördlich der Alpen, es bleibt der größte jüdische Gold- und Silberschatz des europäischen Mittelalters und es bleibt, als Zeichen der wechselvollen Beziehung zu Mainz, die größte barocke Stadtfestung Mitteleuropas (Zitadelle Petersberg).
In diesem Beitrag sind nur vereinzelte Schlaglichter aus der Erfurter Stadtgeschichte angeklungen. Die umfangreiche Stadtgeschichte, allein im Mittelalter und der frühen Neuzeit, in einem Beitrag kurz darzustellen ist unmöglich. Daher ist es nötig in folgenden Beiträgen dieses Vorhaben weiterzuführen.

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Verwendete Literatur
Literaturverzeichnis
Benary, Friedrich: Die Vorgeschichte der Erfurter Revolution von 1509: ein Versuch. In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 32 (1911), S. 1-129.
Benary, Friedrich: Über die Erfurter Revolution von 1509 und ihren Einfluss auf die Erfurter Geschichtsschreibung. In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 33 (1912), S. 125-161.
Deutschländer, Gerrit: Im Bunde mit der Hanse? Bündnisinteressen thüringischer Städte im Spätmittelalter. In: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 66 (2012), S. 95–110.
Mägdefrau, Werner: Stadt und Bürgerwelt im mittelalterlichen Thüringen. Erfurt 2004 (=Thüringen gestern und heute, Bd. 22).
Mägdefrau, Werner/Langer, Erika: Die Entfaltung der Stadt von der Mittel des 11. bis zum Ende des 15. Jahrhunderts. In: Gutsche, Willibald im Auftrag des Rates der Stadt Erfurt (Hg.): Geschichte der Stadt Erfurt. Weimar ²1986, S. 53-102.
Mägdefrau, Werner: Thüringen und das Reich um 1500. Aufbruch vom Mittelalter in die Neuzeit. Bad Langensalza 2016.
Neubauer, Theodor: Die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Stadt Erfurt vor Beginn der Reformation: I. Teil. In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 34 (1914), S. 1-78.
Schmidt-Händel, Astrid: Der Erfurter Waidhandel an der Schwelle zur Neuzeit. Frankfurt am Main 2004.
Weiß, Ulmann: Die frommen Bürger von Erfurt. Die Stadt und ihre Kirche im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Weimar 1988.
Weiß, Ulman: Von der Frühbürgerlichen Revolution bis zur völligen Unterwerfung durch Kurmainz vom Ende des 15. Jahrhunderts bis 1664. In: Gutsche, Willibald im Auftrag des Rates der Stadt Erfurt (Hg.): Geschichte der Stadt Erfurt. Weimar ²1986, S. 103-144.
Onlinequellen
Landeshauptstadt Erfurt: 1315 – 1742 | Auf dem Höhepunkt der Machtentfaltung. (https://www.erfurt.de/ef/de/erleben/entdecken/geschichte/chronik/111879.html, letzter Abruf: 13.02.2021).
Landeshauptstadt Erfurt: 1473 – 1618 | Humanismus und Reformation, zweite Blüte um 1600. (https://www.erfurt.de/ef/de/erleben/entdecken/geschichte/chronik/111880.html, letzter Abruf: 13.02.2021).
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