Die vielen Gesichter Arcos

von Anja Weinberger

Arco, das ist die besonders hübsche Stadt ein paar Kilometer nördlich des Gardasees.

Von hier aus kann man den See nicht mehr sehen, zumindest dann nicht, wenn man mit beiden Füßen auf dem Boden des kleinen Städtchens bleibt [1].

Und das bringt uns schon gleich zu einem der vielen Gesichter Arcos. Denn der Ortsname gilt unter Kennern als Synonym für »Rock«, was in diesem Falle keine Musikrichtung bezeichnet, sondern die Kletterfelsen, auf denen sich während der Saison ein buntes Völkchen von Hobby- und Sportkletterern tummelt. Aus aller Welt kommen sie angereist, um die vielen hochgelobten Klettersteige in der Umgebung des Ortes zu nutzen. In den mittelalterlichen Gassen, die von hohen, alten Häusern gesäumt werden, haben sich mehrere sehr gut sortierte Sportfachgeschäfte eingenistet, die alles zu bieten haben, was der Kletterer von heute so braucht.

Und auf der Piazza direkt neben der Collegiata, wie die größte Kirche am Platz genannt wird, findet der erschöpfte Bergsteiger die perfekte Kneipe für »danach« in Form der Bar »Ai Conti« mit dem Urgestein Pio, der seit über 20 Jahren hier sportlich, aber elegant und immer freundlich den Laden schmeißt. Es gibt sehr gut belegte Brote, aber oft auch Pasta, leckeren Nachtisch und Salate. Die Plätze unter der Markise sind sehr begehrt und es wird in vielen Sprachen fachsimpelt über das tagsüber Erlebte. Gerne werden dabei auch Tipps ausgetauscht, wo man abends besonders gut essen kann.

Und das führt uns umgehend zu einem anderen der vielen Gesichter Arcos. Hat man sich »per cenare«, also zum Abendessen, für das traditionelle und äußerst gepflegte »Alla Lega« entschieden, wird man erstaunt sein, unter welch herrlichem Freskenschmuck man hier im lauschigen, weinüberwucherten Innenhof tafeln kann. Schaut man genauer hin, was gar nicht so einfach ist, denn der Fries befindet sich in stattlicher Höhe, so kann man feststellen, dass dort oben die Geschichte Roms dargestellt ist. Auch im Inneren des Renaissancepalastes, in den balkengedeckten Räumen des Erdgeschosses, sind die Tische immer gut besetzt.

Arco, © Anja Weinberger

Orgelempore in der Collegiata, © Anja Weinberger

Sant Apollinare, © Anja Weinberger

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Gehört man zu den Kunstinteressierten unter den Arco-Besuchern, so macht man sich am besten zu Fuß auf den Weg, um die vielen Kirchen des Örtchens zu besuchen. Am leichtesten zu finden ist die oben schon genannte Collegiata, die mit ganzem Namen »Collegiata di Santa Maria Assunta [2] di Arco« heißt. Sie steht breitbeinig in der Mitte des Ortes und dominiert das ganze Städtchen. Jedoch ist diese Dominanz nicht unangenehm. Eher dient die doppelgeschossige Pilastergliederung der Spätrenaissancefassade als Blickfang von überall her.

Innen ist das Chorgewölbe ausgemalt und viele Altäre säumen beide Langhauswände. Sehr hübsch ist die Orgelempore verziert. Man muss zweimal hinsehen, ehe man bemerkt, dass die Skulpturen nicht wie so häufig Putti mit zum Trompete-Spielen aufgeblasenen Backen darstellen, sondern ausgehfein gekleidete musizierende Bürger. Auf der Außentreppe der Collegiata sitzen, egal wann man vorbei kommt, viele Kinder und Erwachsene, glücklich an einem Eis aus der benachbarten Gelateria [3] schleckend.

Viel interessanter aber als die große Pfarrkirche mitten in der Stadt sind die kleinen versteckten Kirchen in und um Arco. Auf drei von ihnen möchte ich näher eingehen.

Fährt man von Norden (durch die Marocche aus Trient kommend) Richtung Gardasee und hat das Glück Beifahrer zu sein, so bemerkt man, hin geschmiegt wie ein Schwalbennest, ein winziges freskiertes Gebäude direkt an der senkrechten Felswand des Sarcatales. Das ist die Paulus-Klause oder »L’eremo di San Paolo«, malerisch gelegen zwischen den Ansiedlungen Prabi und Ceniga. Hat man Lust auf eine nicht zu lange Wanderung, so könnte man in Arco startend das winzige Kirchlein zu Fuß erreichen.

Oder aber man lässt das Auto nur einige hundert Meter entfernt in einer kleinen Parkbucht stehen, muss dann nur noch wenige, jedoch steile Stufen im umgebenden Eichenwald erklimmen, und schon steht man staunend vor der Klause. Verblüffend gut erhalten sind die Fresken an der Außenwand und auch innen ist viel zu sehen. Der Altar wies bis zur Restaurierung im vergangenen Jahrhundert sogar noch das Weihedatum 5.April 1186 auf. Glücklicherweise wurden diese uralten Schriftzeichen wenigstens auf Fotografien festgehalten.

Sant Apollinare, © Anja Weinberger

Egal, ob zu Fuß oder motorisiert, kurz vor dem eigentlichen Ortsbeginn Arcos trifft man rechts der Straße auf die unauffällige, kleine Kirche Sant’Apollinare. Leicht übersieht man sie, ist sie doch umringt von Wohngebäuden. Viele Jahre lang musste man sich mit der Betrachtung des Letzten Abendmahles auf der überdachten Außenseite zufriedengeben, denn das Kirchlein war meist verschlossen. Aber schon das war ein Vergnügen, denn der Tisch dieser Abendmahlsversammlung ist überreich, ortstypisch und mit Freude am Genuss gedeckt. Flache Maisbrote liegen zwischen den Tellern und Gläsern, Flusskrebse und Birnen warten darauf verzehrt zu werden. Je zwei der Jünger haben auf einem gemeinsamen Teller ein schuppiges Fischfilet liegen, einer kostet schon den eingeschenkten Wein, ein anderer prüft, ob das Messer wohl scharf genug ist. Und wie es sich gehört liegt Johannes schlafend neben seinem Herrn.

In letzter Zeit hat man häufiger Glück und die kleine Kirchentüre steht offen. Dann kann man auch die Seitenwände des Innenraumes mit gut erhaltenen Fresken des späten 14. Jahrhunderts bewundern. Im Grunde ist hier alles (oder vieles) vorhanden, was zu einer kurzen Bibelkunde des Alten Testamentes gehört: Verkündigung, Kreuzigung, Grablege, eine thronende Madonna und viele Heilige. Die italienische Sprache hat für solche Kirchlein zwei Ausdrücke: »La Bibbia dei Poveri« [4] oder »La Sistina dei Poveri« [5].

San Rocco, © Anja Weinberger

Aber noch nicht genug. Im alten Zentrum des Ortsteiles Caneve befindet sich das Kirchlein San Rocco. Mit einer solchen Farbenpracht rechnet vermutlich keiner, der das schummerige Gebäude durch den schmalen Seiteneingang betritt. Erst wenn sich die Augen den Lichtverhältnissen angepasst haben und man schließlich den Lichtschalter gefunden hat, den es seit einigen Jahren glücklicherweise gibt, bemerkt man, dass hier ein Juwel zu bestaunen ist. Jeder Qua-dratzentimeter des Chores und des Langhauses, das hier nicht wirklich lang ist, sind bemalt.

Angenommen wird, dass die Kirche San Rocco Ende des 15. Jahrhunderts von Odorico d’Arco anlässlich seiner Vermählung mit der Gräfin Susanna Collalto gestiftet worden ist. Aus dieser Zeit stammen auch die Fresken des Chores, die eine bunte Mischung darstellen aus Sakralem und Selbstdarstellung der beiden Familien des Hochzeitspaares. Von wem diese qualitätvollen Fresken stammen ist nicht bekannt, aber man erkennt, dass der Maler die Erkenntnisse der Frührenaissance [6] schon wahrgenommen hatte.

Einige Jahre später wurde dann das Kirchenschiff ausgemalt, vermutlich von Dionisio Bonmartini (dem Maler, der auch den Fries zur Geschichte Roms im weinbewachsenen Patio der Gaststätte »Alla Lega« ausgeführt hat, die im Palast des Odorico d’Arco ihre Gäste empfängt). Vierzehn Bilder zur Passion Christi überziehen die Wände, ausgestattet mit viel Personal und noch mehr fantasievollem Hintergrund.

Beinahe könnte man die beiden Gemälde der Seitenaltäre übersehen in all diesem Trubel. Man sollte sie jedoch genauer betrachten, vor allem auch die kleinen, kunstvollen Szenen der Predella [7]. Beide Werke stammen von Marcello di Fogolino, dem von Fürstbischof Bernardo Cles [8] bevorzugtem Maler. Seine Kunst kann auch im Castello di Buonconsiglio in Trient bewundert werden.

In Arco gibt es noch mehrere Gotteshäuser, die es aufzusuchen lohnt; eine davon könnte die neogotische evangelische Trinitatiskirche mit besonders schönem Dach und Turm sein oder die kleine Kirche San Giuseppe al Ponte am Beginn der Via Giovanni Segantini. Oder man macht sich auf die Suche nach San Bernardino da Siena im uralten, völlig untouristischen Gassengewirr oberhalb der Via Vergolano.

Würde man von dort aus noch weiter bergauf marschieren, so zeigte sich ein weiteres der vielen Gesichter Arcos.

Von hier aus ist es nämlich nicht mehr weit zur Burg der Grafen von Arco oder genauer gesagt zu dem, was von ihr noch übrig ist. Mehrere befestigte Wege führen durch Olivenhaine hinauf auf den markanten Kegel. Schon Albrecht Dürer war vom Anblick der damals noch intakten Burg auf ihrem imposanten Felsen gefesselt und so entstand 1495 das bekannte, heute im Louvre hängende Gemälde.

Der Burgberg von Arco blickt auf eine lange Geschichte zurück. War er vermutlich schon im Mittelalter besiedelt, so ist eine Nutzung durch den einheimischen Adel ab dem Jahr 1000 gesichert.

Der obere Ensembleteil, der sogenannte Rengheraturm samt Ringmauer, wurde gegen 500 von den Goten erbaut und diente in dieser lange vergangenen Zeit als Fluchtburg für die Bevölkerung der Ebene nördlich des Gardasees. Ab dem 12. Jahrhundert war dann immer häufiger der Name des Adelsgeschlechtes der Grafen von Arco zu vernehmen, die sich schließlich zum Besitzer der Burg erklärten. In den Folgejahren haben die alten Mauern viel Hin und Her erlebt, kamen 1614 jedoch wieder unter die Herrschaft der Arcos, die dann 1680 von Kaiser Leopold I. endgültig entmachtet wurden. Daraufhin verfiel die Burg schnell. 1927 erwarb Gräfin Giovanna d’Arco, ihrerseits die Letzte der italienischen Linie [9], das Burggelände zum letzten Male, ehe es 1982 von der Gemeinde Arco gekauft wurde.

Paulus-Klause, © Dr. Jörg Weinberger

Kurz darauf entschloss sich das Denkmalschutzamt schließlich zu umfangreichen Sicherungs- und Sanierungsarbeiten. So kann man heute den Burgfelsen von Arco völlig gefahrenfrei besuchen. Oben angekommen staunt man über den romanischen Hauptturm mit seinen charakteristischen ghibellinischen Zinnen, den Wachtturm in Richtung Laghel, den schon erwähnten Rengheraturm, das Felsengefängnis, über freigelegte Fresken und vor allem über die herrliche Aussicht.

Ein paar Sätze noch zu diesen Fresken, denn sie sind wirklich amüsant. Der sie beherbergende Raum wird Sala dei Giochi [10] genannt, denn wir dürfen noblen Damen und Herren beim Spielen über die Schulter sehen. Hier wird gewürfelt, dort Dame gespielt. Am köstlichsten ist die Darstellung des Schachspieles, bei der deutlich zu erkennen ist, dass das Edelfräulein kurz davorsteht, ihren männlichen Gegner zu besiegen.

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Wieder im Ort Arco angekommen, stolpern wir förmlich über eine weitere Facette des kleinen Städtchens. Denn direkt am Beginn der Via Giovanni Segantini liegt die Galleria Civica G. Segantini, sehr schön untergebracht im Palazzo dei Panni. Der Maler Giovanni Segantini ist im Januar 1858 in Arco geboren, hat aber nur eine sehr kurze Zeit hier verbracht. Früh starb die Mutter, unfähig der Erziehung war der Vater, überall im Weg der kleine Giovanni. Im Grunde eine sehr traurige und erzählenswerte Geschichte, die hier aber zu weit führen würde.

Das kleine, aber feine Museum besitzt einige Originalgemälde und hat in den letzten Jahren einen äußerst lehrreichen interaktiven Informationspunkt geschaffen. Der Rundgang durch die schönen Räume ist eine unerwartete Freude.

Läuft man einmal quer durch die Innenstadt Arcos, steht man plötzlich vor Gebäuden, die eher in einem Kurbad oder in einer Stadt der k.u.k.-Monarchie zu erwarten wären. Und da liegt man gar nicht falsch. Denn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde Arco zum Wintersitz des österreichischen Kaiserhofes. Erzherzog Albert von Österreich ließ eine herrschaftliche Villa errichten und in der Nähe dieser Villa einen weitläufigen Park. Dank des milden Klimas gedeihen hier eine Vielzahl unterschiedlichster Pflanzen aus allen Erdteilen. Das heutige Arboretum [11] dient unter anderem zur Forschung und Erhaltung gefährdeter Arten.

Auch für dieses Gesicht Arcos gibt es eine passende Möglichkeit, um sich mit Kaffee oder anderen Köstlichkeiten verwöhnen zu lassen. An der Via delle Palme steht das Caffè Casinò di Arco. In bester traditioneller Kaffeehausmanier kann man sich in die Vergangenheit träumen oder aber im Hier und Jetzt einen Sprizz genießen.

Arco, © Anja Weinberger

Erzherzog Albert war der Erste, der Arcos Qualitäten als Luftkurort wahrgenommen hatte. Von nun an entstanden Kuranlagen und Unterkünfte aller Art. Schnell wurde es in adeligen, betuchten und gebildeten Kreisen chic, zur Kur nach Arco zu fahren. Los ging es also mit dem Fremdenverkehr. Elegante Villen, weitläufige Parkanlagen und eine Flanierpromenade inmitten des Ortes erinnern an diese Zeit.

So kam auch Rainer Maria Rilke nach Arco. Seine kranke Mutter verweilte hier besonders gerne zur Kur und Rilke besuchte sie häufig. Ausgedehnte Spaziergänge unternahm er in der näheren und weiteren Umgebung und schrieb zahlreiche Gedichte.

Im Arco unserer Zeit gibt es zu seinem Gedenken eine Rilke-Promenade, die ausgestattet ist mit Schautafeln und Lesenswertem. Folgt man ihr, so bekommt man einen guten Überblick über Rilkes Arco, aber auch über das Arco von heute.

Fußnoten
1 … Ehrlich gesagt können auch die bald angesprochenen Kletterer höchstens einen kleinen Fetzen vom See sehen, denn der Monte Brione schiebt sich vorwitzig in den Weg.

2 … Ital. für »Mariä Himmelfahrt«

3 … Eisdiele

4 … »Die Bibel der Armen«. Kaum einer konnte lesen und in diesen Bildern wurden die biblischen Geschichten leicht verständlich dargestellt.

5 … »Die Sixtinische Kapelle der Armen«, zu verstehen in Anlehnung an die Sixtinische Kapelle in Rom. Vgl. Fußnote 4.

6 … Denkt man zurück an Sant’Apollinare und das beinahe zeitgleich entstandene Abendmahl, so wird einem klar, dass die dort agierenden Wandermaler noch fest verhaftet waren in den Formen der Gotik.

7 … Sockel unter dem eigentlichen Gemälde,

8 … Einer der bedeutendsten Persönlichkeiten seiner Zeit. Er lebte von 1485 bis 1539 und bereitete das Konzil von Trient vor. Obwohl er vor dessen Beginn starb, prägen die von ihm initiierten Bauten das Stadtbild von Trient.

9 … Die Linie der Arcos teilte sich in einen italienischen, in Mantua ansässigen Zweig und einen bayerischen. Auf diesem Wege ist der Name Arco auch mit der Bierbraukunst in Verbindung gekommen. Bis heute gibt es entsprechende Brauereien im Süden Deutschlands: Arcobräu, im Besitz der Familie Arco-Zinneberg, und »Graf Arco« im Besitz der Familie Arco auf Valley.

10 … Ital. für »Saal der Spiele«

11 … Botanischer Garten mit starker Gewichtung auf Bäume

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