Die drei Rosenfenster der Kathedrale zu Chartres
von Anja Weinberger
Die drei Rosen-fenster der Kathedrale zu Chartres
von Anja Weinberger
Für mich ist die gotische Kathedrale in Chartres auch deshalb besonders interessant, weil sie (und ihre Stadt) mehrere Facetten der Sehnsucht nach Schönem befriedigen kann. Denn Chartres ist nicht nur in einer Hinsicht großartig und einzigartig.
Zuallererst ist Notre-Dame, die herrliche Kathedrale, schon von weitem zu erkennen und dominiert mit ihrer wohlbekannten Silhouette bereits aus größerer Entfernung die Landschaft der Beauce, jener eher baumlosen Ebene im Südwesten der Hauptstadt Paris – ein immer wieder eindrucksvoller, dramaturgisch geschickter und berührender Auftritt. Erst wenn man direkt auf das Zentrum zufährt, fallen die Häuser der Stadt auf, die sich zu Füßen des Gotteshauses drängen, ja übereinander schachteln.
Außerdem hatte Chartres das große Glück, in den Weltkriegen nicht zerstört worden zu sein – man sieht es der kleinen Stadt an, aber natürlich auch der großen Kathedrale Notre-Dame. Kaum ein anderer Kirchenbau kann uns die Gotik und das damalige Erzählpotential so unverfälscht und bildreich nahebringen. Ein wenig ist das auch der Tatsache geschuldet, dass nur eine einzige Kapelle nachträglich zwischen zwei der Strebepfeiler in den großen Kirchenraum gebaut und somit der Rhythmus der imposanten Konstruktion kaum gestört wurde. [1]
Bei vielen anderen der gotischen Kathedralen Frankreichs kennt man den Namen des Architekten – nicht so jedoch in Chartres. Dieser uns Unbekannte hat ein Wunderwerk vollbracht, das durch die Mächtigkeit seiner Bauglieder und den hochvirtuosen Einsatz der typisch gotischen Strebebögen beeindruckt. Er hatte ein sicheres Gespür für Proportionen und verlor sich nicht in der Suche nach kleinteiliger Symmetrie.
Vor allem sind es jedoch die Fenster, die mich in der Kathedrale zu Chartres verzaubern. Die Stadt hat der vorherrschenden Farbe mit ihrem ganz besonderen Timbre sogar ihren Namen überlassen – Chartreser Blau oder »bleu de Chartres« [2]. Man könnte fast meinen, dass hier in Notre-Dame die steinerne Architektur nur mehr als Gerüst für diese vielen bunten und erzählenden Scheiben dient. 176 Fenster können wir bewundern, die größtenteils in einer Zeitspanne von 35 Jahren entstanden sind und mehr als 2500 m2 Wandfläche einnehmen.
Interessant in diesem Zusammenhang: Vor der vorletzten Restaurierung im 20. Jahrhundert war das Blau noch deutlich dominanter als heute. Denn die blauen Teile der Fenster waren von Verwitterung nur wenig betroffen und behielten ihre Leuchtkraft. Rote, grüne und gelbe Fensterabschnitte hingegen bildeten mehr oder weniger dicke Schichten von Wetterstein [3] aus. Dementsprechend verschob sich also das Farbgleichgewicht nach den Restaurierungsarbeiten, die mit einer Reinigung der Fenster einhergingen, zu Ungunsten des berühmten Chartreser Blaus.
Dazu kommt noch, dass in den vergangenen Jahren auch große Teile des Mauerwerks gesäubert wurden. Die nun ungewohnt hellen Wandflächen haben ebenfalls großen Einfluss auf das Gesamtbild.
Sowohl die Portalfiguren als auch die vielen Fenster der Kathedrale erzählen Altbekanntes. Aus dieser Vielzahl biblischer Geschichten und Portraits stechen für mich die drei großen Rosetten hervor, die das Hauptportal im Westen und die beiden Seitenportale des Querschiffs krönen.
Diese drei Rosenfenster sind im Abstand von nur wenigen Jahren entstanden und doch stellen sie sich äußerst unterschiedlich dar.
Das älteste der drei ist die große Rosette am Westportal, dem noch romanisch geprägten Haupteingang von Notre-Dame. Dieses Fenster, ganz zu Beginn des 13. Jahrhunderts entstanden [4], gleicht einer Blume, eben einer wahren Rose, und kommt mir vor wie ein Geschenk an die Jungfrau Maria, der die Kirche geweiht ist. Genau genommen leuchtet uns sogar ein ganzer Blumenstrauß entgegen, denn 12 kleine Rosen sind wie bei einer Uhr am äußeren Rand angeordnet und werden noch weiter außen von ebenfalls 12 vierblättrigen Kleeblättern, sogenannten Vierpässen, begleitet. 12 nach innen schmaler werdende Tropfen stellen die um das Zentrum herum gruppierten Blütenblätter dar.
Dort, im Mittelpunkt dieser also stark aufgelösten Rose, ist der Menschensohn zu sehen, der am Tage des Jüngsten Gerichtes seine Wundmale zeigt. Umgeben ist er von einer Vielzahl Engeln, Aposteln, von den vier Evangelistensymbolen und dem Erzvater Abraham, die alle Behausung genommen haben in den einzelnen Fensterornamenten. Sie formieren sich dort zu den altbekannten Szenen. Wir erkennen den Erzengel Michael, der die Verdammten von den Seligen trennt, und Abraham, in dessen Schoß die Seligen ruhen; wir beobachten, wie Tote ihren Gräbern entsteigen und Engel die Leidenswerkzeuge in Händen halten oder die Posaunen des Jüngsten Gerichtes erklingen lassen.
Sind meine Augen bei diesen Bildern angekommen, so habe ich den Rest des Tages einen Ohrwurm. Es ist jene eine Stelle aus Johannes Brahms‘ »Deutschem Requiem«, die keinem mehr aus dem Kopf geht, der das Werk einmal gesungen oder gehört hat: »Denn es wird die Posaune schallen, und die Toten verwandelt werden. […] Tod, wo ist dein Stachel, Hölle, wo ist dein Sieg?« [5]
Bei dieser frühen Rosette über dem Westportal meint man, einzelne Lichtbündel direkt durch die Mauer dringen zu sehen. Auch von der Außenseite ist gut zu erkennen, aus wie vielen Einzelfensterchen diese Blume besteht und wie kunstvoll und durchdrungen von architektonischen Strukturen der Stein gearbeitet ist, der diese Einzelteile verbindet. Man wird quasi Zeuge eines wichtigen Moments innerhalb der Architekturgeschichte. Die Westrose ist eher eine durchbrochene Mauer und noch kein eingesetztes Fenster und dabei die einzige der Rosetten, die selbst eine stützende Funktion übernehmen muss.
Ganz anders bei der Grande Rose der Südfassade des Querschiffes. Nur knapp 20 Jahre später entstanden [6], vermittelt diese Rosette einen völlig anderen Eindruck. Unsichtbare Entlastungsbögen leiten den Druck auf die seitlichen Türmchen ab und befreien die Rose so von jeglicher tragenden Funktion. Die Steinanteile weichen zurück, nehmen weniger Platz ein und erlauben den einzelnen Glasflächen der Rosette größere Nähe zueinander. In meinen Augen tritt hier das pure Licht zurück und überlässt der Farbe den Raum. Dargestellt ist im weitesten Sinne der Neue Bund, und Christus thront als Hauptdarsteller des Neuen Testamentes in der Mitte. Und so sind quasi unter dem Stichwort »Apokalypse des Johannes« noch vielfältigere Formen und noch kleinteiligeres Bildmaterial versammelt.
Wir treffen wiederum auf Engel, die bekannten Symbole der vier Evangelisten, die gleichzeitig die vier Überlebenden der Apokalypse darstellen, und in den äußeren Kreisen auf die 24 Ältesten der Apokalypse. Sie bezeugen den Neuen Bund ohne einzugreifen und sind üblicherweise gerne in romanischen Portaltympana zu finden. Auch deshalb ist diese Darstellung in einem gotischen Fenster besonders hervorzuheben.
Manchmal frage ich mich, ob die Menschen der damaligen Zeit so viel bessere Augen hatten als wir und diese Geschichten tatsächlich erkennen konnten. Sehr klein sind die Figuren, sehr weit oben. Was ich aber sicher weiß, ist, dass die Menschen der Epoche die Musik noch nicht hören konnten, die mir hier durch den Kopf geht. Ich denke nämlich an die vielen Vertonungen des „Dies Irae“ [7] der klassischen Musik, die alle deutlich später als die Fenster in Chartres entstanden sind [8].
Nun drehen wir uns um die eigene Achse und blicken in die entgegengesetzte Richtung direkt auf die letzte der drei großen Rosen, die uns aus dem oberen Bereich der Nordfassade entgegen blüht. Sie wurde noch einmal einige Jahre später erstellt [9] und bildet doch den Anfang der Geschichte, die mit dem Jüngsten Gericht an der Westfassade endet. Denn diese dritte und nördliche der Grandes Roses bezieht sich auf den Alten Bund des Alten Testamentes. Abgebildet sind Engel, Seraphim mit Rädern unter den Füßen, auch vier Tauben mit Kreuznimbus als Stellvertreter des Heiligen Geistes, die Vorfahren Christi, Propheten und alle zwölf Könige von Juda, beginnend mit David. In der Mitte thront die gekrönte Maria, den Jesusknaben auf dem Schoße und ein Zepter in der Hand, als Mittlerin zur kommenden Zeit. Die ebenfalls abgebildeten Lilien und Türme verweisen auf den Stifter Ludwig IX. und seine Mutter Blanca von Kastilien.
Auch beim Anblick der Seraphim auf Rädern muss ich sofort an eine bestimmte Musik denken. Kennen Sie die Arie »Let the bright Seraphim« aus Händels »Samson und Delila«? Obwohl der Bezug zur hier beschriebenen Geschichte nicht wirklich vorhanden ist, höre ich beim Anblick der Seraphim sofort diese Klänge. Meine liebsten Versionen dieser Arie mit obligater Trompete sind die von Renée Flemming und Kathleen Battle.
Vergleichen wir die Nordrosette mit der im Westen, so können wir kaum glauben, dass keine dreißig Jahre vergangen sind zwischen den beiden Kunstwerken. Hier im nördlichen Querhaus verschwimmen die Konturen. Von vielen winzigen Medaillons umfasste große Halbkreise, Vierpässe, in Lanzetten eingepasste kleinere Kreise, an einer Ecke abgeflachte Quadrate oder Rauten – von außen betrachtet verbindet sich die Grande Rose mit den darunterliegenden Lanzettfenstern. Auch das sie direkt umgebende Mauerwerk ist aufgebrochen. Und so wirkt das steinerne Gerüst wie eine elegante Malerei auf gläsernem Untergrund. Hier ist nicht zu übersehen, dass innerhalb der verstrichenen 35 Jahre Bauzeit ein deutlicher Fortschritt hinsichtlich der Vertrautheit mit Material und architektonischer Umgebung stattgefunden hatte; der Stil der Glasmalerei selbst jedoch ist durchgängig und ungebrochen.
Von hier aus ist der Weg frei für die technisch noch aufwendigeren Fensterkonstruktionen der nächsten Generation [10].
Die drei Rosenfenster in Chartres sind nur schwer aus dem Gesamtzusammenhang des Bildprogrammes der Kathedrale zu lösen. Die erzählte Geschichte geht weiter in der Chorapsis und wird verdeutlicht in vielen der Einzelfenster, verteilt über zwei Geschosse von der Westfassade über das südliche Langhaus, die Chorapsis bis hin zum nördlichen Langhaus.
Jedoch lässt sich eine gewisse Dominanz der großen Rosetten nicht leugnen, denn durch ihre Form und die in Stein gefasste Bewegung drängen sich die drei Schönen elegant in den Vordergrund.
Fußnoten und Literaturverzeichnis
1 … Häufig wurden anderswo die vorhandenen Strebepfeiler genützt, um zahlreiche Kapellen einzubauen, die eben diese Strebepfeiler als Seitenwand in ihre Konstruktion einbezogen. Das für die Gotik so typische Strebewerk ist dann von außen kaum mehr zu erkennen.
2 … Das typische Chartreser Blau finden wir in den wenigen erhaltenen Fenstern des 12. Jahrhunderts.
3 … Wetterstein ist ein Verwitterungsprodukt des Glases selbst und in der Lage, Feuchtigkeit zu speichern. Sehr ungünstig!
4 … 1200 – 1210
5 … Johannes Brahms – »Ein deutsches Requiem«: »Siehe, ich sage euch ein Geheimnis: Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden; und dasselbige plötzlich, in einem Augenblick, zu der Zeit der letzten Posaune. Denn es wird die Posaune schallen, und die Toten verwandelt werden. Dann wird erfüllet werden das Wort, das geschrieben steht: Der Tod is verschlungen in den Sieg. Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?« – 1. Korintherbrief
6 … 1217 – 1225
7 … Das „Dies irae“ ist der Anfang eines mittelalterlichen Hymnus über das Jüngste Gericht.
8 … Mir besonders eindrücklich: Mozart, Verdi, Britten … und Sky.
9 … 1223 – 1233
10 … z. B. St. Denis oder Paris
Literatur:
Kimpel, Dieter u.a.: Die gotische Architektur in Frankreich 1130-1270, München 1985
Popesco, Paul: Berühmte Glasmalereien in Europa – Die Kathedrale von Chartres, Augsburg 1969
Prache, Anne: Notre-Dame de Chartres – Image de la Jérusalem céleste, Paris 2003
Schäfke, Werner: Frankreichs gotische Kathedralen, Köln 1979
Musik:
https://music.youtube.com/watch?v=QcBacmtuFCs&feature=share Brahms
https://www.youtube.com/watch?v=0T7eMctuJLQ – Mozart – Dies irae
https://youtu.be/wCgOclzTd4Q – Verdi – Dies irae
https://www.youtube.com/watch?v=ETocdXjv1HU – Britten- Dies irae
https://youtu.be/xeiEXMeal60 – Sky
https://youtu.be/hwu_3TOpEHI – Renée Flemming, Händel – Kathleen Battle
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