Der Kölner Dom – die Vollendung der Gotik

 

 

von Berno Maria Hübinger

Der Kölner Dom – die Vollendung der Gotik

Im Jahr 1772 erscheint eine anonyme Flugschrift „Von Deutscher Baukunst“.

Der Autor ist angesichts des Straßburger Münsters geradezu überwältigt von der Leistung des Baumeisters, dem genialen Bauwerk, der Reinheit der Formen.

Es ist Johann Wolfgang Goethe, der einige Jahrzehnte später, jetzt nicht mehr anonym, Köln besucht. Sulpiz Boisserée, gebürtiger Kölner, Kunstsammler und enthusiastischer Verfechter eines Weiterbaus der Kathedrale, hat seinem Freund Goethe zuvor visionäre Zeichnungen mit einem fertig gestellten Dom überbracht. Goethe verspürt bei der Besichtigung des seit Jahrhunderten dem Verfall preisgegebenen Torsos wohl nicht annähernd die Begeisterung wie in Straßburg, denn vergleichbare Äußerungen bleiben aus. Dennoch veranlasst er den Druck der Boisseréschen Zeichnungen und wird so zu einem der populärsten Werber für einen Weiterbau des Kölner Doms.

Während Goethe die „Deutsche Baukunst“ preist, erkennt Friedrich Schlegel in der Gotik das Blumenhafte und Gewächsähnliche, deren wahrer Ursprung das tiefe deutsche Naturgefühl ist. Und Josef Görres, Herausgeber des Rheinischen Merkurs, schreibt, den Dom zu vollenden, dokumentiert die Befreiung von der französischen Herrschaft.

Straßburger Münster, © Berno Maria Hübinger

Der Dom mit seinen Doppeltürmen wird zu einem Nationaldenkmal. Es ist die Zeit der Romantik, und der nationale Gedanke fällt auf fruchtbaren Boden. Friedrich Wilhelm IV, protestantischer König von Preußen und im Dauerkonflikt mit dem Kölner Erzbischof, stellt den Gedanken einer Versöhnung mit dem Rheinland voran. Er stimmt einem Weiterbau des gotischen Doms zu.

Der Ursprung der Gotik könnte der 14. Juli 1140 gewesen sein. An diesem Tag beginnt Abt Suger den Chorneubau seiner Abteikirche in St. Denis. Seine Abteikirche ist von herausragender Bedeutung, denn hier finden die französischen Könige ihre Ruhestätte. An der Einweihung des Chors im Jahr 1144 nimmt König Ludwig VII persönlich teil. Die Anwesenheit des Königs zeugt von einem großen Interesse an der neuen Architektur. Drei Jahre später bricht Ludwig zum Zweiten Kreuzzug auf. Er besucht die heiligen Stätten in Jerusalem, so auch die al-Aqsa-Moschee auf dem Tempelberg. Seit dem Ersten Kreuzzug dient die Moschee zunächst König Balduin II, dann dem neugegründeten Orden der Templer als Hauptquartier.

Tempelberg Jerusalem, © Berno Maria Hübinger

Erbaut wird die al-Aqsa-Moschee im 8. Jahrhundert. Ein Arkadengang ist der Moschee vorgelagert. Jede einzelne Arkade wird gekrönt von dem für die islamische Architektur typischen Spitzbogen. Die islamische Ornamentik erzeugt neue Spannung, ein Hauch von Orient, wo doch Jerusalem die Wiege des Christentums ist.

Es mag sein, dass die ersten Kreuzfahrer und auch Ludwig VII Gefallen an dieser Ornamentik finden. In St. Denis ist jedenfalls der Umbau von der Romanik zur Gotik beispielhaft zu sehen. Im oberen Turmgeschoss ist noch der romanische Rundbogen zu sehen, während im Inneren der Spitzbogen dominiert. Gleichzeitig weicht der Quadermassenbau der Romanik dem Steinmetzgliederbau der Gotik.

Abteikirche Saint-Denis, © Berno Maria Hübinger

Abteikirche Saint-Denis, © Berno Maria Hübinger

Es ist der Zeitgeist, der eine neue Epoche der Baukunst einläutet. Technisch lassen Erfindungen wie der Baukran, das Laufrad, die maßstäbliche Bauzeichnung die Kirchenschiffe in neue Höhen streben, dem Himmel entgegen. Auf Bündelpfeilern ruhende Kreuzrippengewölbe überspannen das Kirchenschiff. Der Gewölbeschub wird außen über den Seitendächern mit Strebepfeilern und -bögen abgefangen.

Maßwerke stabilisieren überdimensionale Fensterbahnen. Der anfänglich viergeschossige Wandaufriss weicht dem dreigeschossigen Aufriss aus Arkaden, Triforium und Obergaden.

Kathedrale von Laon, © Berno Maria Hübinger

Kölner Dom, © Berno Maria Hübinger

Theologisch bilden die neuen Kathedralen mit ihren Rippengewölben das himmlische Jerusalem auf Erden ab. Die Fensterbahnen bringen „mystisches“ Licht hervor. Die Scholastik sieht Licht als Symbol für den vollkommenen Körper.  Die Lichtfülle lässt mehr Göttliches einströmen. Für Thomas von Aquin ist Licht im Kontext seiner Gotteslehre Teil der Schönheit. Inbegriff der Vollkommenheit ist die kreisrunde Westrose.

Westrose Kathedrale von Reims, © Berno Maria Hübinger

Hatte die Romanik noch mit einem mächtigen Bollwerk im Westen symbolisch das Böse abgewehrt, so trägt die Rose in gotischen Bauwerken Gottes Botschaft in die Welt hinaus.

Politisch sind es die Herrschenden, die die neue Architektur vorantreiben. Abt Suger ist enger Vertrauter von Ludwig VII und wird während dessen Kreuzzug sogar als Regent des Landes eingesetzt. Unter Ludwig VII beginnt der Bau von Notre Dame auf der Île de la Cité, die Kathedrale zu Ehren der Gottesmutter Maria. König Ludwig IX baut die Saint Chapelle, um den Christen des Abendlandes die Dornenkrone Christi, Teile des Kreuzes und die Spitze der Heiligen Lanze zugänglich zu machen, die er für sehr viel Geld in Konstantinopel erworben hat.

Sainte-Chapelle, © Berno Maria Hübinger

Chartres, bedeutender Marien Wallfahrtsort, wird nach einem Brand gotisch erneuert. Es berührt die Pilger schon von Weitem, wie sich die beiden Türme in der flachen Beauce-Ebene dem Himmel entgegen strecken.

Kathedrale von Chartres, © Berno Maria Hübinger

Kathedrale von Chartres, © Berno Maria Hübinger

In Reims, dem Krönungsort der französischen Könige, wird 1211 der Grundstein zum Bau einer repräsentativen Kathedrale gelegt. An der Westfassade ist Chlodwig abgebildet, wie er in Reims die Taufe empfängt und dem Christentum den Weg zur Macht ebnet. Die Westrose bleibt in Konkurrenz zu anderen Kathedralen unübertroffen.

Kathedrale von Reims, © Berno Maria Hübinger

Gotische Wunderwerke entstehen in den umliegenden Bischofssitzen, so in Noyon, Laon, Soissons.

Kathedrale von Laon, © Berno Maria Hübinger

Die Bischöfe wetteifern mit der Innenhöhe des Kirchenraums. Amiens erreicht eine Innenhöhe von 45 Metern. Beauvais wagt sich an 48 Meter heran, doch das Gewölbe über dem Chor stürzt ein. Trotz wiederholter Bauanstrengungen bleibt das Langhaus bis auf ein Joch unvollendet.

Die Baumeister der Kathedralen sind mit ihren Erfahrungen auch außerhalb von Frankreich begehrt. Der Baumeister von Sens reist nach Canterbury und leitet den Beginn der Gotik in England ein.

Kathedrale von Canterbury, © Berno Maria Hübinger

Meister Gerhard wirkt erfolgreich als Baumeister in Amiens.

Kathedrale von Amiens, © Berno Maria Hübinger

Kathedrale von Amiens, © Berno Maria Hübinger

Von dort kommt er nach Köln, wo Erzbischof Konrad von Hochstaden im Jahr 1248 den Grundstein zum Bau einer Kathedrale legt, die zuvorderst die Pilgerschar über einen monumentalen Chorumgang zum goldenen Dreikönigenschrein führen soll. Das Ziel wird 1322 erreicht. Der Chor mit seinem Hochaltar und dem mit 104 Sitzen größten Chorgestühl der christlichen Welt wird eingeweiht.

Die weitere Bautätigkeit ist überschaubar. Das Langhaus wird bis zu der Höhe der Seitenschiffe aufgemauert und mit einem schmucklosen Dach abgedeckt. Der Südturm im Westen erreicht 1446 eine Höhe von 56 Metern und nimmt die Glocken Pretiosa und Speciosa auf, die heute noch zum Gebet rufen. Dann zerstört die Reformation alle Zukunftspläne, und um 1560 kommen die Arbeiten in der Dombauhütte zum Erliegen. Der Holzkran auf dem unvollendeten Südturm prägt über Jahrhunderte das Stadtbild Kölns.

Max Hassak (1856-1934), Der Dom zu Köln, Public Domain Lizenz (Schutzfrist abgelaufen), Wikimedia Commons; Link: zum Bild

Die Renaissance folgt der Gotik. Der Dom zu Florenz mit der gewaltigen Kuppel des Filippo Brunelleschi ist bereits eingeweiht. In Rom übernimmt Michelangelo Buonarotti die Bauleitung des Petersdoms, und er wird die Leistung von Brunelleschi noch einmal übertrumpfen. Erst jetzt belegt Giorgio Vasari, ein italienischer Architekt der Renaissance, die Bauepochen der Vergangenheit mit Namen. Die Bauepoche des Quadermassenbaus mit seinen Rundbögen, in Rom idealtypisch im Colosseum verwirklicht, nennt er romanisch. Die Bauepoche der französischen Kathedralen und die „Deutsche Baukunst“ in Straßburg und Köln, ist ihm unsympathisch. Die Kirchenbauten erscheinen ihm kalt und seelenlos, und er benennt den Stil nach dem kulturell ungebildeten Volk der Goten „gotisch“. Der „stilo gotico“ gilt als seine Wortschöpfung. Den Mailänder Dom wird er ausgenommen haben, denn bei Baubeginn ist die Spätgotik bereits angebrochen, und eine Fassade, die mit Marmor verkleidet wird, kann einem italienischen Kunstkritiker keinesfalls als kalt und seelenlos erscheinen.

Colosseum Rom, © Berno Maria Hübinger

1842 erfährt der Kölner Dom seine zweite Grundsteinlegung durch Friedrich Wilhelm IV. Der Lebenstraum von Sulpiz Boisserée geht in Erfüllung. Vom Gefühl überwältigt bricht er in Tränen aus, so vertraut er es am Abend seinem Tagebuch an. Ernst Friedrich Zwirner, der bei Karl Friedrich Schinkel gelernt hat, kommt aus Berlin und übernimmt die Bauleitung. Der Entwurf des Querschiffes ist seine Meisterleistung. Für dieses zentrale Bauwerk mit seinen drei eingewölbten Portalen im Norden und im Süden gibt es keine Vorlagen. Zwirner gelingt es, in die Gotik einzutauchen und ein Querhaus zu erschaffen, das in seiner Harmonie mit dem mittelalterlichen Chor überzeugt.

Notre-Dame de Paris, © Berno Maria Hübinger

Für die Westfassade mit den Doppeltürmen liegt die originale Zeichnung des Mittelalters vor. Es ist ein Aufriss aus 20 aneinandergeklebten Pergamenten, zwischenzeitlich verschollen, aber auf wundersame Weise wieder aufgefunden. Mit Hilfe moderner Techniken, einer Dampfmaschine, Schienenfahrzeugen und Eisenwerkstoffen wachsen die Türme in rasantem Tempo empor. Der Gerüstbau in schwindelerregender Höhe lässt erahnen, dass eine derartige Leistung im Mittelalter nicht möglich gewesen wäre. Die Türme sind das Trauma der Gotik.

Das Straßburger Münster besitzt nur einen, die Kathedrale in St. Denis ebenso, nachdem der deutlich höhere baufällige Nordturm im 19. Jahrhundert abgetragen wurde.

Chartres´ Türme wirken wie zweieiige Zwillinge, die Turmspitzen der Kathedralen von Notre Dame und Reims werden gar nicht erst gebaut.

1880 erreicht der Kölner Dom die Höhe von 157 Metern, ein Historischer Festzug feiert das Ende des Weiterbaus, die Gotik findet ihre Vollendung.

Kölner Dom, © Berno Maria Hübinger

Köln – Stadt- und Kulturgeschichten

Geschrieben vom enthusiastischen Köln-Kenner Berno Maria Hübinger, entführen diese Kulturgeschichten den Leser in eine der aufregendsten Städte Deutschlands: historisch und unterhaltsam, hintergründig und kabarettistisch.

Verwendete Literatur

Binding, Günther: Was ist Gotik? Darmstadt 2000

Kier, Hiltrud: Gotik in Köln. Köln 1997

Nussbaum, Norbert: Deutsche Kirchenbaukunst der Gotik. Köln 1985

Toman, Rolf (Hg.): Gotik, Architektur, Skulptur, Malerei. Tandem Verlag GmbH. 2007

Wolff, Arnold: Der Kölner Dom. Verlag Kölner Dom.1995

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