Wo die spanischen Könige verfaulen
von Thomas Büser
Der Escorial-Palast in den Madrider Bergen birgt diverse morbide Geheimnisse, die nichts für Zartbesaitete sind
Viele, die für ein langes Wochenende nach Madrid kommen, machen einen Abstecher in den Escorial. Jenen legendären Palast in den Bergen nordwestlich der Stadt, der zwischen 1563 und 1586 vom mächtigsten Herrscher seiner Epoche, Philipp II., errichtet wurde. Gerade eine Stunde Fahrzeit mit dem Auto oder mit der S-Bahn vom Atocha-Bahnhof aus machen den Escorial zu einem Ausflugsziel in bequemer Reichweite. Die schroffen Bergketten der Sierra de Guadarrama bieten dabei einen ebenso interessanten Kontrast zur modernen Millionenstadt Madrid wie die Pinienwälder, die sich von der Palastanlage aus beinahe endlos bis in Tal zu erstrecken scheinen. Ein wirklich durch und durch poetischer Ort, den sich der zweite Habsburgermonarch als Rückzugsstätte konstruieren ließ.
Der Escorial: ein Stein gewordenes Gebet
Philipps Hofarchitekt Juan de Herrera verwandelte das größte Bauprojekt der damaligen Zeit in ein ästhetisches Spiel mit dem Prinzip der Reinheit. Nur geometrische Formen, Quadrate, Kreise, Rechtecke. Keinerlei unnötige Ablenkung durch Reliefs oder anderweitige Ornamente. Ganz und gar untypisch für die spanische Architektur des späten 15. und 16. Jahrhunderts, die mit Flamboyant-Gothik oder Platteresk-Stil schon seit Generationen im Zeichen überbordener Dekoration gestanden hatte.
Demgegenüber war der Escorial ein wie aus der Zeit gefallenes Beispiel für Schlichtheit und Formenstrenge – „desornamentado“ wie er in betonter Überspitzung und mit Verweis auf den Baumeister Herrera auch oft beschrieben wird. Keine Frage: Der Escorial wies weit über seine Zeit hinaus und war bis ins 19. Jahrhundert hinein stilprägend. In Westeuropa haben vermutlich nur der Petersdom und Versailles eine ähnlich überragende symbolische Bedeutung.
Wer beim Escorial jedoch an einen typischen Renaissancepalast denkt, der vor allem für repräsentative Hofhaltung und höfische Feste konzipiert war, der liegt völlig falsch. Das Konzept der gesamten Anlage war durch und durch religiös, und das begann bereits beim offiziellen Namen. San Lorenzo de El Escorial. El Escorial war ein kleines, seit dem 11. Jahrhundert im Tal existierendes Dörfchen, das sich Philipp II. wegen seiner idyllischen, abgeschiedenen Lage, aber auch wegen seiner Nähe zur neuen Hauptstadt Madrid als Ort für sein architektonisches Großprojekt ausgesucht hatte. Viel wichtiger jedoch war der erste Teil der offiziellen Bezeichnung. Denn San Lorenzo, der Heilige Laurenz, war ein aus Spanien stammender, frühchristlicher Märtyrer, der im späten 3. Jahrhundert unter Kaiser Diokletian den Martertod auf einem glühenden Rost starb.
Als die Heere Philipps II. gleich zu Beginn seiner Regierungszeit am 15. August 1557 bei Saint Quintin einen historischen Triumph über die französischen Truppen Heinrichs II. feierten, war klar: der Palastkomplex, über dessen Errichtung Philipp schon seit langem nachdachte, sollte dem Heiligen Laurenz gewidmet sein. Denn der 15. August war in der katholischen Christenheit der Tag seines Martyriums. So wurde also das Projekt nicht nur vom Namen her dem aus Spanien stammenden Heiligen gewidmet. Wer genau hinschaut, der wird als Grundriss der gesamten Anlage auch einen Rost identifizieren können, jene Apparatur evozierend, auf der Lorenzo seine heldenhaften Todesqualen durchstanden hatte.
Religion, Meditation, Weltabgewandtheit. Das waren die Grundprinzipien dieses monumentalen Bauwerks. Aus diesem Grund stand auch nicht der königliche Palast im Mittelpunkt, sondern die Basilika mit einer 92 Meter hohen Kuppel, und der Konvent mit einer Gemeinde des Hieronymus-Ordens, zu dessen Hauptaufgaben es zählte, Tag und Nacht für das Seelenheil seiner katholischen Majestät wie auch der gesamten Königsfamilie zu beten. Und weil diese Fürsorge ein Herzensanliegen des spanischen Habsburgers war, ließ Philipp bereits kurz nach Grundsteinlegung die Zahl der Mönche von 50 auf 100 verdoppeln. Im Verhältnis zu Basilika und Konvent war der Palastkomplex alles andere als mondän und verfügte auch über keinerlei repräsentativen Zugang. Die Privaträume des Herrschers waren lediglich über eine versteckte und verwinkelte Treppe zu erreichen.
Keine Frage: Der 60km von Madrid entfernte Escorial sollte ein Ort der Abgeschiedenheit, des Gebets und des Rückzugs sein und kein Ort für Massenaudienzen oder höfischen Pomp. Philipp II., spätestens seit Schillers Theaterstück „Don Carlos“ als blutrünstiger Tyrann verschrien, war ein durch und durch religiöser Mensch, der eine Religiosität ganz im Stil der Gegenreformation lebte.
In klarer Abgrenzung zum Protestantismus beharrte er auf der Rolle der Heiligen als Vermittler zwischen Mensch und Gott, und was lag da näher, als sich im Escorial auch eine beeindruckende Sammlung an Heiligenreliquien zuzulegen, über die ein wundertätiger Abglanz auf ihren königlichen Besitzer ausstrahlen sollte. Insgesamt sammelte der Monarch mehr als 7.500 Objekte und ließ sie in einer Reliquienkammer in nächster Nähe zu seinem Gemach aufbewahren. Denn Philipp II, wollte die heilsstiftenden Überreste nicht nur permament in seiner Nähe wissen, er wollte sie auch mit sich führen, wann immer ihm danach war.
Alles im Escorial kreiste um das Thema der Frömmigkeit und des Gebets. Von seinem Alkoven aus hatte der König nicht nur direkten Zugang zu seiner Reliquienkammer, er konnte auch den Gottesdiensten beiwohnen, die in der Basilika abgehalten wurden. Umgeben von Reliquienkästchen und Werken seines Lieblingsmalers Hieronymus Bosch, mit einer atemberaubenden Aussicht in Richtung Westen, gen Sonnenuntergang hinter dem Pinienmeer jenseits der Palastmauern.
Für den tiefgläubigen Herrscher war der Escorial eine Art persönliches Testament, unverzichtbarer Rückzugsort im Spätsommer und Herbst, Gegenpol zu den Madrider Palastintrigen. Und verwundert es, dass der mehr als 70jährige, von der Gicht geplagte, sterbenskranke König im Juni des Jahres 1598 genau hierher zurückkehrte? In sechs Tagesmärschen, die einer persönlichen Passion glichen, ließ sich der König auf einer Art Tragestuhl in die Berge bringen, um hier den Tod zu finden. Nahezu komplett gelähmt, führte der von schmerzhaften Tumoren und Abzessen an den Beinen geplagte Herrscher die Regierungsgeschäfte bis unmittelbar vor seinem Ableben von seiner Matratzengruft aus fort. Bis er um 5 Uhr morgens am 13. September des Jahres 1598 verstarb, laut Legende zeitgleich mit der aufgehenden Sonne und der ersten Morgenmesse der Novizen im Konvent.
Die Krypta der spanischen Könige, der „Panteón de los Reyes“
Der Escorial als Palastkonvent und Grablege. Diesen Auftrag hatte Philipp von seinem Vater Karl V. in dessen Testament erhalten: Ein Pantheon für die mächtige Dynastie der spanischen Habsburger. Karl selbst, der Herrscher über ein Weltreich, hatte sich im abgeschiedenen Yuste in der Extremadura einen derartigen Komplex errichten lassen, aber die Dimensionen waren viel zu klein, um hier auch seine Nachfolger und deren Familien zu beerdigen.
Der Escorial sollte alle anderen königlichen Grabstätten in Europa in den Schatten stellen, aber beim Abgang Philipps fehlte noch etwas Entscheidendes: eine Grabkammer. Unglaublich, aber wahr. Die unvorstellbaren Kosten des gesamten Bauwerks machten nach der Errichtung einer Decke die Fertigstellung der restlichemn Krypta lange Zeit unmöglich. Die Einweihung des „Pantheons der Könige“ verzögerte sich noch fast ein halbes Jahrhundert und blieb dem Enkel Philipps vorbehalten, Philipp IV. Erst 1650 also konnten die sterblichen Überreste des zweiten Habsburgers und seines Vaters Karl V. aus der Basilika an den Ort überführt werden, der eigentlich hierfür auserkoren war. Der Pantheon war einer der kostbarsten Räume im Escorial. Ganz aus Bronze und Marmor, mit Kuppelgrutesken geschmückt.
Fast könnte man ins Schwärmen geraten, wären hier nicht auch nahezu alle spanischen Herrscher seit Karl V. begraben Jeweils 26 Grabnischen auf beiden Seiten der Grabkammer, gefüllt mit ca. 1 Meter großen Bronzesarkophagen, der letzten Ruhestätte der spanischen Habsburger und auch der Nachfolgedynastie der Bourbonen. Von Karl V. bis zu Juan de Bordón, dem Vater des 2014 abgedankten Juan Carlos, auf der einen Seite, auf der anderen Seite die Königinnen – sofern sie Mütter von Königen waren. Die einzige Ausnahme: Isabel II. die einzige Königin seit dem 16. Jahrhundert. Ihr Sarg befindet sich auf der Seite der männlichen Monarchen.
Nahezu jedem Besucher stellt sich beim Betrachten der kleinen Sarkophage die etwas unangenehme Frage: Wie passt ein ausgewachsener Mensch in ein derart kleines Behältnis? Die Antwort sorgt immer wieder für Erstaunen: Nach ihrem Tod kommen Könige und Königinnen nicht sofort in die Sarkophage. Vor der endgültigen Reise in den Pantheon machen die königlichen Leichen erst noch einen Abstecher in die Verwesungskammer, ein Stockwerk oberhalb der Königsgräber.
Bei dieser Kammer handelt es ich um einen 16 Quadratmeter großen Raum, in dem die Kadaver deponiert und in regelmäßigen Abständen immer wieder mit einer Kalkschicht bedeckt werden. Lediglich die Augustinermönche des Konvents haben Zutritt zu dieser Kammer. Sie müssen Kalk nachschütten und von Zeit zu Zeit überprüfen, wie weit der Verwesungsprozess schon fortgeschritten ist. In aller Regel dauert dies zwischen 20 und 30 Jahren, je nach Leiche. Ist kein Leichengeruch mehr festzustellen und ist der Leichnam so weit geschrumpft, dass er in einen kleinen Bleisarg passt, dann kann dieser Sarg mitsamt königlicher Leiche in den Sarkophag im Pantheon überführt werden.
So ist der Wunsch der beiden Habsburger Karl und Philipp in Erfüllung gegangen: der Escorial ist ein Ort des Gebets und des Sterbens, ein Pantheon der spanischen Königsdynastien. Aber wie lange noch? Der „Panteón de los Reyes“ ist voll, es gibt keine freien Grabplätze mehr. Die Ex-Monarchen Juan Carlos und seine Gattin Sofía werden nach ihrem Tod keinen Platz mehr in der Gruft des Escorial finden. Die Experten spielen derzeit alle Optionen durch, um Platz für die Neuankömmlinge zu schaffen: Karl V. und Philipp II. könnten an ihren ursprünglichen Begräbnisort in der Basilika rücküberführt werden.
Oder eine bauliche Verlängerung der Krypta in Richtung Palastpark. Oder ein Neuanfang bei den königlichen Beerdigungen: Bestattung in der Krypta des Königspalastes von Madrid. Zum Glück hat es mit all diesen Plänen aber noch keine Eile, denn nach ihrem Tod steht Sofía und Juan Carlos ja erst noch ein mindestens 20jähriger Aufenthalt in der Verwesungskammer bevor. Und wer weiß, ob die spanische Monarchie dann überhaupt noch existiert….
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